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Die Komposition des Gesamtkunstwerks Gesellschaft muss stimmen

29. September 2021

Von Tine Lowisch

Eine Meldung im Umfeld der Ereignisse am letzten Wahlsonntag hat mich dann doch schwer beeindruckt. Da haben die Menschen in Berlin Mitte während der Bundestagswahl 2021 wohl bis zu zwei Stunden lang vor dem Wahllokal gewartet, um ihre Stimme abzugeben. Über zwei Stunden lang wählen gehen, mit allem drum und dran, das hört sich für mich überraschend an, da bin ich ehrlich gesagt sogar ein bisschen neidisch. Wie gerne hätte ich mich auch in eine lange Reihe von Wahlwilligen gestellt und das besondere Glück, meine Stimme abgeben zu dürfen, mit dem Wissen, dass diese zählt, mit anderen geteilt und nur zum Zeitvertreib dabei versucht die Stimmungslage in jedem einzelnen wartenden Gesicht zu erkennen oder in meinem Gesicht von anderen ablesen zu lassen.

Tine Lowisch - Foto: Claudia Scheer van Erp
Tine Lowisch - Foto: Claudia Scheer van Erp

Mein Wahlurnengang gemeinsam mit meinem Mann und unserem erwachsenen Kind war im Vergleich dazu weniger spektakulär, er war irgendwie leiser. Hin und zurück, dauerte unser Spaziergang durch die sonntäglich stille Wuppertal Vohwinkeler Mitte gerade mal 15 Minuten. Die längste Zeit innerhalb dieser überaus wichtigen Viertelstunde verbrachten wir damit, in der Wahlkabine, jeder für sich dabei anders gestresst, zu versuchen unsere Zettel wieder halbwegs ordentlich zurück zu falten. Dies war uns kaum möglich und alle drei haben wir dabei die Briefumschläge ernsthaft vermisst. Dass unsere ungelenken Faltversuche in der Abgeschiedenheit eines Gemeindesaals in der Peripherie unter den freundlichen Augen der engagierten Wahlhelfer nicht öffentlich wurden, hat uns, bei aller Aufregung im Zuge einer Bundestagswahl die eine Zeitenwende manifestieren soll, tatsächlich sehr beruhigt.

Genauso wie das befreiende Lachen nach dem Stress und ja auch der Kuchen, den es dann zur Feier des Tages zu Hause im Anschluss gab. Zusammen mit endlich einmal wieder interessantem Live-TV generiert aus knappen Prognosen, ersten Hochrechnungen und einer sich anschließenden langen Nacht der Berichterstattung und der Einschätzung auf allen Kanälen auf denen schon sehr bald das große Pokern um Mehrheiten und deren Fähigkeit begann. Wer mit wem, warum und wofür? Wer das mit Spannung verfolgte, konnte bei genauer Betrachtung erkennen was es jetzt braucht: Zuallererst braucht es intellektuelle Kraft, den Auftrag, der nun durch die abgegebenen Stimmen erteilt ist, genau zu begreifen. Dieser Auftrag ist erteilt und die Aufgaben sind klar. Wenn jetzt die Eitelkeiten abgelegt werden könnten und auch die persönlichen Befindlichkeiten, wäre das doch schon einmal eine gute Ausgangslage von der aus man in den Sachen vernünftige Entscheidungen treffen wird, mit denen man dann auch zielführend arbeiten kann, in einer zugegebenermaßen außerordentlich schwierigen gesamtgesellschaftlichen Gemengelage.

Formalästhetisch sind da jetzt Farbkompositionen im Spiel, die man sich auf Leinwänden oder anderen Malgründen, kontrastreich platziert, dick aufgetragen, lieber nicht vorstellen möchte. Mein Tipp: Liebe Politik, du musst jetzt miteinander, nicht gegeneinander kreativ werden. Denn es ist kein Geheimnis, das man zum Beispiel beim Malen oft die beste Erscheinung der malerischen Entscheidungen in den harmonischen Übergängen, in den Zwischentönen, den Zufällen oder auch in den Kompromissen findet. Wie auch immer die Farben zusammenfinden, die Linien müssen stimmen. Die Kunst dabei ist, mit Disziplin, mit viel Erfahrung und natürlich auch mit einer guten Portion Humor und vor allem mit Entschlossenheit die Komposition des Gesamtkunstwerks Gesellschaft nicht einfach nur zu bestimmen. Liebe Politik, du solltest dich lieber auf das Repertoire der Schönen Künste besinnen und mit Harmonieverständnis und Farbenlehre ausbalancieren. Die Aufgabe, das Gesamtkunstwerk Gesellschaft zu ermöglichen und den Rahmen für das bunte Bild Gesellschaft zu schaffen ist jetzt wichtiger denn je. Denn dieses Bild muss unbedingt nachhaltig werden.

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