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Auch die Sprache steht im Rückreisestau

Eine Heimat finden wir nur dort, wo wir uns verändern // 19. Juli 2023

Von Max Christian Graeff

Ein Kolumnenschreibtisch im Garten, die Hummeln wühlen im blühenden Majoran und auf dem Hügelbeet randalieren die Taglilien. Wer hat ein solches Idyll verdient, in dieser Welt, die drumherum doch ganz anders ist? Es ist der erste Sommer des offiziellen Anthropozäns, der vor etwa 250 Jahren begonnenen Wende zum neuen, durch menschliche Fähigkeit bestimmten Erdzeitalter. Den zur wissenschaftlichen Gültigkeit des Begriffs nötigen Messpunkt meint man, nun gefunden zu haben.

Max Christian Graeff
Max Christian Graeff - Foto: C Paravicini

Wie schnell es geht: Am Anfang dieser irren Beschleunigung lebten meine Ururgroßeltern in Blombach und am Büngershammer, in Den Haag, Insterburg und andernorts und droschen auf Stroh, Eisen und andere Menschen ein. Von ihren Gesprächen über das Wetter oder über Schuld und Recht, Heimat und Fremde würde ich heute kein Wort verstehen, dabei sind sie doch nur fünf Leben von meinem Gartenglück entfernt. Ihre alten Sprachen und selbst die bergischen Dialekte habe ich nicht mehr gelernt. Auch die Sprachwelten drehen sich: immer schneller und zugleich viel zu langsam.

Das Wahrnehmen verschiedener Richtungen der Sprache verstärkte sich ab der Sexta durch Lehrer, die ihre in Diktatur und Krieg verlebte Jugend und Überzeugung immer noch weitergaben und uns – vor 50 Jahren – zu menschenfeindlichen Aufsätzen zwangen. Zum Glück versuchten bald jüngere Lehrerinnen und Lehrer, Rassismus und Antisemitismus aus dem Gemüt und täglichen Sprachgebrauch zu spülen. Ein überfälliger Umbruch, den nur jene als Verlust empfanden, die Angst vor jeder Veränderung hatten. Für andere und mich war es die Entdeckung, das Leben durch bewusstes Formulieren, durch ein aktives Finden der Sprache als unsere Zeit gestalten zu können.

In der Folge kamen tausende Wörter aus allen Kultursparten dazu, auch kommerzialisierter Jugendslang und Modebegriffe. Doch die schon damals als überfällig geltenden Wandlungen hin zur sprachlichen Gleichberechtigung der Geschlechter, Lebensweisen und Herkünfte sind noch immer nicht vollzogen. Zu groß ist wohl die Furcht vor dem Ausprobieren, vor der Anstrengung und Ungemütlichkeit des guten Willens. Auch ich gerate bei „LGBTQIA2S+“ noch ins Stocken, was aber nur an der schweren Zunge liegt.

Doch dass manchen Menschen (und auch Medien) das generelle Gendern immer noch so schwerfällt wie das Tempolimit, ändert nichts daran: Der Stillstand ist nicht mehr als kulturelle Gegenwart zu akzeptieren. Mancher Stau wird flugs zum Rückfluss ins Reaktionäre, was global und auch im Tal durch zunehmende Gewalttaten an Andersfühlenden begleitet wird. Sprache leitet uns, im Guten wie im Schlechten.

Als ich klein war, schrieb Hans Geib die Kolumne „Hie kallt Ötte“ im General-Anzeiger. Trotz aller Versuche habe ich dieses Platt nie sprechen gelernt; es geriet nur zur windschiefen Kulisse einer Heimat, die in meinem Leben nicht spürbar war. Erst später lernte ich in der Literatur, durch Else Lasker-Schülers „Wupper“, auch durch Paul Pörtner, Robert Wolfgang Schnell und andere den mentalen Reichtum hiesiger und weiterer Dialekte kennen. Was im Plattkallen zwischen den Zeilen klingt, ist mitunter derb, doch ebenso fein, sensibel und in stetigem Wandel. Dass es in der traditionsliebenden bürgerlichen Kultur oft rückständig klingt, darf nicht täuschen. Auch die Striekspöen, die am 12. August ihr großes Abschiedskonzert auf dem Laurentiusplatz geben, waren vor 50 Jahren progressive jonge Jongens aussem Tal – und sind möglicherweise heute noch jünger als manche jung Festgefahrenen. Ohne Bewegung in der Sprache würden sie heute kaum mehr zu feiern sein.

Ihre Meinung bitte wie immer an kolumne@fnwk.de schreiben.

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