Neues Spiel, neues Glück Kunst versus Leben – ein archivwürdiger Streit // 3. September 2025 Max Christian Graeff Da sind sie also wieder mit ihren länger werdenden Schatten, diese taumelnden, bald schon purzelnden, ins Dunkle schmelzenden Tage. Die erste Woche nach den Ferien hat gehalten, was sie versprach: Wir stürzen in heiterer Turbulenz auf die Schulhöfe des Lebens zurück; alles gestikuliert wild, erzählt von Abenteuern in der Fremde, von Erlebtem und Verpasstem – oder auch nur von wenigen stillen Tagen jenseits der Krawalle des Alltags. Jetzt heißt es, sich zu beeilen und schon mal die Tulpenzwiebeln zu kaufen, um dann im Advent festzustellen, dass man schon wieder nicht zum Setzen kam. Max Christian Graeff - Foto: C. Paravicini Auch in der freien Kunst und Kultur schnurrt der Kalender nach festen Regularien ab; die Projekte fürs nächste und übernächste Jahr müssen geschrieben werden, denn Projektfördermittel haben meistens feste Einreichtermine. Die administrativen und finanziellen Freiflächen für Spontanes, für kurzfristige Ideen und schnelle Reaktionen auf das Weltgeschehen sind verschwindend klein geworden. Die Freien Szenen aller künstlerischen Gewerke tragen zwar den Nimbus der Selbstbestimmung und Unabhängigkeit, doch hängen in Wirklichkeit alle am lebenserhaltenden Tropf. Und was dieser in Zukunft noch durchlässt und in die Adern der Stadt und ihrer Kunst und Kultur fließen lässt, das entscheidet sich im laufenden Monat Ihrer Wahl. Bitte gehen Sie wählen; verschenken Sie dieses Recht nicht an vage Verzweiflung oder Beliebigkeit. Dieser wöchentliche Platz dient der Aufmerksamkeit auf etwas Unbestimmbares: Die sogenannte Freie Szene ist – vor allem in einer so großen und an Fähigkeiten, Talenten und Möglichkeiten überreichen Stadt – eine nicht exakt beschreibbare Wolke. Auch unser Netzwerk FNWK ist nur ein Teil des Ganzen, eine Art Lobby, eine beispielhafte, stets unvollständige Interessenvertretung. Es braucht Nachwuchs, Nachschub und Impulse, um auf der Höhe der Zeit zu sein und um die Belange der unorganisierten Kulturlieferdienste in der Öffentlichkeit und der Politik zu platzieren. Diese Schwierigkeit ist nichts Neues: Letzte Woche erhielt ich aus den Händen eines bejahrten Mitgründers ein rasend spannendes Konvolut des Aktionszentrums „impuls“, das 1968 als wohl erstes Kommunikationszentrum des Landes am Arrenberg entstand. Der Trägerverein hieß „Zeitkunst“, und diese mutigen und auch streitbaren Aktionen ins Offene grundierten eine kulturelle Stadtlandschaft, in der avantgardistische Projekte von internationaler Geltung entstanden und neben der Kunst einen gewaltigen Mehrwert schufen, von dem wir heute noch zehren. Vieles davon ist derweil verraucht; nur relativ wenige Dokumente blieben erhalten. Unsere Stadt hat sich ja immer schon am liebsten weggeworfen, als würde sie sich für das Außerordentliche schämen. Zusammen mit den impuls-Ordnern kamen Materialien zum legendären „Projektraum 360 Grad“ und zum gesellschaftsforschenden Festival Urbs71 und dessen Nachfolgern ins Haus. Allein ein kleines Heft „Scene Wuppertal“ von 1981 mit einem Alternativen Stadtplan aller „Mitmachprojekte“ zeigt anschaulich die Wurzeln unseres heutigen Netzwerks mit seinen Themen und die außerordentliche Anstrengung, die erforderlich war, dass es zum Beispiel seit 42 Jahren das monatliche „iTALien“-Heft gibt. Die komplette, exemplarische Geschichte der freien Künste im Wuppertal der Nachkriegszeit muss noch geschrieben werden, doch dies wird – vermutlich – nicht geschehen. Unsere berühmte Stadt hat dafür weder Raum noch Zeit noch halbe Stelle, dafür immer schon Probleme damit, an sich selbst zu lernen. Und jetzt müssen erstmal die Tulpenzwiebeln ins Beet... Ihre Meinung bitte an ➜ kolumne@fnwk.de 375