Geschichten, die bewegen Von Uta Atzpodien Woher weht der Wind? Als fulminanter Meister des Erzählens zog uns am letzten Freitag der österreichische Übersetzer, Lyriker und Schriftsteller Raoul Schrott in seinen Bann, als er uns im Café Ada im „Literatur auf der Insel“-Gespräch auf eine Reise mitnahm. „Eine Geschichte des Windes oder von dem deutschen Kanonier, der erstmals die Welt umrundete und dann ein zweites und ein drittes Mal“ lautet der ellenlange Titel seines jüngsten Buches: Ein Schelmenroman ist es. Uta Atzpodien - Foto: Ralf Silberkuhl In einer barocken Sprache voller Wissen, Bilder und Lebensweisheiten dreht sich die Geschichte kaum um den in der Weltgeschichte häufig als Held gefeierten Seemann Ferdinand Magellan, sondern um den naiven, zugleich wachen und überaus zähen Hannes aus Aachen, den Juan Alemán, einen kleinen Mann. Intrigen, Meutereien, Hungersnöte, barbarisch-grausige Momente übersteht er in jenen Anfängen der von Gier getriebenen Kolonialisierung, in denen sich schon früh abzeichnete, was heute vielerorts unsere globalisierte Welt noch prägt, die Ausbeutung. Den Ada-Abend haben nicht nur die Sprachkraft, die hingebungsvolle Erzähllust Raoul Schrotts und sein Charisma für uns alle zu einem unvergesslichen Erlebnis gemacht. Kleine, berührende Aha-Momente klingen nach, menschliche Erfahrungen, Einsichten und Perspektiven tragen dazu bei, über Kunst dem Leben auf die Spur zu kommen. Ich nehme mit: Um aus der Vergangenheit oder auch Gegenwart zu lernen und hinter die Kulissen zu blicken, helfen Geschichten, bewegen, beflügeln, decken auf, stellen in Frage. Diese Geschichten gehören zum Leben dazu. Doch wer erzählt sie – und wie; wer reicht sie weiter? Häufig ist es die Kunst, die sie entdeckt, aufgreift, neu erfindet. Manchmal sind die gesellschaftlichen Gefüge eingefahren und verkrustet, dann kann Kunst mit ihrem Perspektivwechsel etwas bewegen. Die Künstlerfilme von Michael Baudenbacher, kürzlich in der grölle pass projects-Galerie zu sehen, sprachen für sich. Mich bewegte besonders sein Film „-x/sec“ (1995) über den Wuppertaler Künstler Andreas Junge, der 2009 starb. Junges „gemalte existenzielle Philosophie“, wie Grölle sie nannte, besteht aus Geschichten vom Sehnen und Aufbegehren. Ab Samstag, 1. Februar, steht Andreas Junge mit einer Schau dort im Fokus. Letzte Woche, ganz plötzlich aus dem Leben geworfen: Ich werde sie vermissen, danke Tine Dorschner, die 23 Jahre Hausmeisterin der Börse war. Mit Schalk im Nacken, eigensinnig burschikos und hilfsbereit. Mich begrüßte sie stets mit lauter Stimme, humorvoll und herzlich: „Läuft‘s gut, Frau Doktor?“ Allzu häufig werden diejenigen, die Kunst erst möglich machen, Hausmeisterinnen, Pförtner, Technikerinnern, Gastronomen und viele mehr zwar geschätzt und doch zu wenig gesehen und gewürdigt. Tine starb an jenem Tag, dem 23. Januar, als ein breites Spektrum der freien Kunstszene in die Börse einlud, um mit dem Kulturdezernenten, dem Forum-Entwickler, mit Verwaltung und Politikern ins Gespräch zu kommen. Woher weht der Wind? Wie kann das Forum, die vierte Säule des Pina Bausch-Zentrums, zu einem wahrhaften Bürgerforum werden? Strukturen und transparente Prozesse sind gefragt: Partizipation, Teilhabe, Mitgestaltung, Gemeinschaft, ein Wir. Es geht um jene Kunst, eben der hiesigen Kultur mit all ihren Schätzen Raum zu geben. Sie ist dem Leben auf die Spur, erzählt eigene Geschichten und vermag herauszufinden, wie Demokratie kreativ, innovativ und menschlich gelebt werden kann. vorheriger Artikel Der Kultur ein Zuhause 4784 Weitere Informationen WZ KolumneDiese Kolumne in der Westdeutschen Zeitung