Das allzu kleine Fenster 13. Juli 2022 Von Max Christian Graeff Inmitten der Tomaten nicht nur über deren pralle Früchte staunend, sondern vor allem über das Glück, sie überhaupt umsorgen zu dürfen, überraschte mich die Nachricht, Kollege Krug sei unpässlich (Genesungswünsche!) und ich solle spontan einspringen. Der erste Gedanke: Bloß nicht wieder so düster werden; das will doch niemand mehr lesen. Vielleicht mal nicht mit den Meisen beginnen; schließlich geht’s um die Kunst! Max Christian Graeff - Foto: C. Paravicini Und keinerlei weltumfassende Fragen mehr, denn das kulturelle Aufmerksamkeitsfensterchen ist in den Ferien noch kleiner als sonst. Lass das große Spiel brav den Berufenen; für Löscharbeiten am Weltenbrand ist diese Luke doch eh viel zu eng. Bleib heiter und flockig bei den Fragen der freien Künste, schürfe beharrlich nach gutbürgerlichem Verständnis für die Sorgen der Kunsttreibenden, die ihr Leben der steigenden Flut der Unsicherheiten zum Trotz täglich für den Traum des verträglichen Daseins aufs Spiel setzen. Grundiere optimistisch, konturiere dynamisch, zaubere – Simsalabim! – Ausweg um Ausweg herbei und lass alle Hoffnung moussieren! Vermutlich ahnen Sie es: Mittlerweile befinde ich mich im dritten Versuch. Im ersten verrannte ich mich völlig in die Frage, warum die unaushaltbar vielfältigen Schrecken jedes Krieges ein täglich so neues allgemeines Erstaunen hervorrufen, als hätten wir unser Leben in einem Bassin voller Zuckerwatte verbracht und in den Augen der Eltern und Großeltern, der Täter wie der Opfer nie den Furor des letzten Jahrhunderts blitzen sehen. Haben das Theater, die Literatur, der Film, die Musik und sogar der Tanz, die Bildung und der gesamte kulturelle Reigen der Groß- und Kleinkunst denn derart versagt, dass wir uns jetzt im kindlichen Staunen der Bonusnaivität herumwälzen müssen? Ist das Beharren auf dem Nichtgewussthabenkönnen selbst wieder Konsumprodukt und Trendsportart? Ein furchtbares Thema; nichts für diesen knappen Platz. Der zweite Versuch zielte mit bestem Vorsatz auf die Online-Veranstaltung mit Helge Lindh über die Bundeskulturpolitik und Kultur als Staatsziel, über eine bessere Absicherung der Kulturschaffenden und, Zusatzthema, die Kulturvernichtung als Obligatorium jedes Krieges; leider konnte ich den vielversprechenden Termin aufgrund eines drängenden anderen Gesprächs nicht wahrnehmen. In jenem ging es um eines der Stipendienprojekte aus dem Corona-Hilfsprogramm, denen zahlreiche freie Künstler fortgesetzt ihre Existenz verdanken. So dankbar ich selbst über diesen arbeitsreichen Freiraum und die Rettung jeder Miete bin, so sehr sehne ich mich doch nach einer Rückkehr des vorpandemisch eingespielten Betriebes. Doch die bereits vor zwei Jahren formulierte Vermutung, es ginge nur noch anders und auf ein viel dickeres Ende zu, hat sich in den offiziell postulierten Zeitenwenden längst bestätigt. Tempi passati, doch wie zu neuen Ufern – und zu welchen? In wessen existenzieller Angst soll die freie Kulturarbeit ihren Sinn, ihre Hoffnung und auch Spaß und Freude anbieten? Wahrhaftig kein Thema für diese kleine Kolumnenbox …Schnell, schnell, der dritte Versuch: Spontan greife ich zum Stapel der prächtigen Glanzpublikationen, die in den letzten Jahren über unsere Wunderstadt erschienen und in deren Mitte stets dieselbe Frage zu schweben scheint: „Wie wollen wir leben?“ Wie rasch so eine Frage sich verformen kann: Wie werden wir leben können? Wie kalt wird es sein, wenn die Vielfalt verglüht? Und wer will Kunst, wenn bald die Kohle fehlt? Oh, ja, das wäre wohl ein Thema – nächstes Mal. Anregungen und Kritik: kolumne@fnwk.de 1560