Wer die Kunst hat, hat die Wahl Der Herbst als Ent-Täuschung und popkulturelles Klimakterium // 22. September 2021 Von Max Christian Graeff In der Morgendämmerung, während das Denken sich noch im weißen Rauschen dehnt und streckt, blitzen zuweilen Erinnerungen aus dem Zufallsgenerator auf. Doch alles hat einen Zusammenhang. Heute früh war es mir, als hörte ich Mutter in der Küche im Walzertakt pfeifen, während sie Schulstullen schmierte: Que sera, sera, whatever will be, will be, the future's not ours to see, que sera sera … Damals dämmerte mir, dass hinter aller popfidelen Pfeiferei verlorene Träume, Ratlosigkeit und Einsichten in den Verzicht vibrieren, als Drogen für den Leistungsschub. Doch nach der Schule wurden beim Mittagessen ganz unresigniert die Fragen der Zeit abgearbeitet: Warum Nazis auf dem Schulhof Aufkleber verteilen durften und man als Sozi auf dem Heimweg verprügelt wurde. Warum Gymnasien nicht gegen Dummheit schützen, Schrottautos Kunst sein können, Attentate zwar Mittel, doch nie Lösung, und ob es jemals eine Umweltschutzpartei geben würde – und was die dann könne außer, gegen Zerstörung zu sein. Butter in Raumecken nannte Mutter Verschwendung; wir hatten kein Geld fürs Klavier und Theater, aber eine reiche Kultur des Sprechens, Pfeifens und der Übungen zur Wahl. Max Christian Graeff - Foto: C. Paravicini Heute ist alles komplizierter, ausdifferenzierter und zum Rand der Existenz hin entwickelt. Im Wahl-O-Mat ist die Kultur in jedweder Form vorsichtshalber nicht erwähnt. Auch von den Kämpfenden in den Arenen gibt es zu ihr wenig mehr als Lippenbekenntnisse, dass sie wichtig sei, auch als Zeichen der Erleichterung nach Covid-19. – Natürlich greifen die verschiedenen Finanzmittel und Maßnahmen gut und das hiesige "SOMMA'21"-Festival ist ein Segen für alle Beteiligten und deren Vermieter – und natürlich für das Publikum, das ein extrem buntes und erfrischend spontanes Programm genießen durfte und darf. Eigentlich noch bis Ende Oktober, doch ab dem Wahlsonntag steht– back to life, back to reality? – kein Termin mehr im Programm. Bleiben wir also so spontan, wie die Ausnahmezeit es uns gelehrt hat. Und auch mit der fundiert geplanten Kultur geht es im Herbst gut weiter: Zum Beispiel ist der Kalender der WOGA, der offenen Galerien und Ateliers, schon gut gefüllt und auch die Insel im ADA, das Tanzrauschen-Pop Me Up (im ehemaligen Dancing "La Femme"), das LOCH und viele andere Orte planen mutig drauflos. Selbst wenn zahlreiche Veranstalter bereits wieder Lesungen, Konzerte etc. aufgrund von dichtem Verordnungsnebel absagen müssen, wird so manches doch stattfinden können, mit und gegen die Impftendenzen unserer Tage. Egal, womit die Politiker (nicht) werben: Ohne Kulturerfahrung gibt es keinen progressiven Diskurs, auch und gerade in einer Stadt, die seit jeher durch Zukunftsdurst und ihre Vielfalt an Meinungen hervorsticht. Natürlich gibt es weiterhin Prügler en masse: Gerade hörte ich so einen neuheiligen Teletubby, dem eine erleuchtete Menge auf Knien nachrutscht (um zum Beispiel den Zugang einer Universität zu blockieren), im Interview den markanten Satz sagen: "Jeder hat das Recht, jeden anzustecken", ob mit Corona, Ebola oder HIV. Mit solch Infizierten haben wir uns auseinanderzusetzen: Freiheit ist immer Freiheit des anders Sterbenden. Das kulturelle Leben, ob analog oder digital, ist aber – man kann es nicht oft genug sagen – wie das unverzichtbare Gespräch beim Mittagessen, bei dem ich als weiterhin Lernender all das verarbeiten kann, was mir auf dem Schulhof widerfuhr. Ohne Kultur gibt es keine Resilienz und keine Zukunft. Keine Wahl, sondern nur Wahlkampf. Gehen Sie bitte wählen! Ihre Meinung gerne an: kolumne@fnwk.de 1983