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Das große „Trotzdem“ – Kultivieren wir unseren Kontakt

Sichere und inspirierende Orte müssen bewahrt werden // 21. Oktober 2020

Von Torsten Krug

Theater sind Orte, die sich mit Inszenierungen auskennen. Vor einigen Wochen waren meine Frau und ich auf einer Premiere im Schauspielhaus Bochum. Im Foyer treffen wir auf mehr Einlasspersonal als Publikum. Wir warten auf Gäste, die in der Mitte der Reihe gebucht haben; erst dann können wir, die weiter außen sitzen, in den Theaterraum eingelassen werden. Bei den Verspäteten handelt es sich um ein junges Paar, das sich kurzzeitig trennen muss: er betritt den Saal von rechts, seine Freundin muss auf die andere Seite des Gebäudes, dann sitzen beide wieder nebeneinander in der Mitte. Die Premiere kann mit einer Viertel Stunde Verspätung beginnen.

Torsten Krug - Foto: Andreas Fischer
Torsten Krug – Foto: Andreas Fischer

Vergangenes Wochenende, wieder Bochum, erleben Kolleginnen und ich eine Aufführung im Prinz-Regent-Theater mit 18 statt knapp hundert Plätzen. Wieder werden wir durch eine aufwendige Inszenierung geschleust, stehen draußen in der Kälte, dürfen einzeln eintreten, nach jedem Toilettenbesuch wird selbige gereinigt. Nach der Vorstellung lotst ein Theatermitarbeiter jeden persönlich vom Platz, nach links, nach rechts, stopp, durch den Gang ohne anzuhalten, hinaus in die frische Nachtluft, die uns aufatmen lässt.

Auf der Bühne bringt das Ensemble unsere Lebenswirklichkeit auf den Punkt und berührt mit starken wie improvisierten Bildern: Pascal Merighi tanzt via Skype mit seinem Partner Juan Carlos Lérida, der auf einem nächtlichen Balkon in Barcelona zu sehen ist und nicht einreisen konnte. Tusnelda Mercy, ganzkörperverhüllt, hält Merighi den ganzen Abend über an einer langen Kette, wie auf Abstand, aber auch, als könnte er in die virtuelle Welt entschwinden. Auf die Frage, was diese Produktion mit ihnen mache, antwortet Merighi im Publikumsgespräch, ihm fehle „die Erde“, er spüre sich „nur halb da“. Wir nicken.

Die Allgemeinverfügungen wechseln beinahe täglich und vermischen sich mit den Regelungen auf Landes- und Bundesebene, bis in die Träume hinein. Die Anzahl der Plätze bei Kulturveranstaltungen ist in Wuppertal mittlerweile auf 20% geschrumpft. Hinzu kommen die Sperrstunden und die Beschränkungen in der Gastronomie, die fast jede, ich möchte sagen: kultivierte Begegnung verhindern.

Verstehen wir uns nicht falsch: Die Lage ist bitterernst, alle fahren auf Sicht, auch die Politik. Doch plädiere ich dafür, angesichts explodierender Infektionszahlen die Probleme gerade nicht in die heimischen vier Wände zu verlagern. Häusliche Gewalt, Depressionen und Vereinsamung sind das eine. Vor allem aber sind private Räume genau jene, in denen die Ansteckungsgefahr bei Feiern hoch, die Sorglosigkeit oft am größten ist. Menschen, junge wie alte, die sich verständlicherweise treffen wollen, sollten dies in einem Rahmen tun dürfen, der ihnen und damit uns allen Sicherheit bietet. Die allermeisten Gastronomen und vor allem unsere Kulturorte haben ihre Hausaufgaben in den letzten Monaten mehr als gemacht. Mehr denn je brauchen wie jetzt Räume, in denen wir uns angstfrei begegnen und in denen wir seelisch auftanken können. Noch immer wir die Bedeutung von Kunst und Kultur in der Krise marginalisiert oder unterschätzt!

„Alles Entscheidende“, so Nietzsche, „entsteht trotzdem“, also gerade unter extremen Bedingungen, Einschränkungen oder Bedrohungen. An unseren Kulturorten geschieht gerade „Entscheidendes“, trotzdem. Und sie bieten Sicherheit. Der Gedanke, einfach zu Hause zu bleiben, greift also zu kurz. Wir brauchen sichere wie inspirierende Orte – und müssen sie bewahren.

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