Eine Geisterbahn namens „Fahrt ins Ungewisse“ Auf geht‘s ins nächste Quartal eines verunsicherten Jahres, mit gebremster Vorfreude auf die einst „gemütlich“ genannten Tage, wenn der Sturm an den Fenstern rüttelt und die Heizung bullert. // 2. September 2020 Von Max Christian Graeff Kühler wird‘s und Wolken dräuen; ein lehmfarbener Teig quält sich durch die Rohre der riesigen Backautomaten, die unsere Welt mit Gewürzspekulatius pflastern, und bald zitiert jeder Facebookkanal wieder das Gedicht vom Haus, das einer nicht hat und sich auch nicht mehr baut. Auf geht‘s ins nächste Quartal eines verunsicherten Jahres, mit gebremster Vorfreude auf die einst „gemütlich“ genannten Tage, wenn der Sturm an den Fenstern rüttelt und die Heizung bullert. Heuer ist Durchzug gesund und die Komfortzone relativ, das haben manche nun gelernt. Andere grabschen gierig nach den Freifahrt-Bons für den Erlebnispark, in dem die Achter- und Geisterbahnen mit brandneuen Attraktionen versehen wurden. Max Christian Graeff - Foto: C. Paravicini Der Sturm auf die Treppe des „deutschen Volkes“ wurde zur lächerlichen Sensation dieses Games, in dem sich alles um die Pandemie des entfesselten Egoismus dreht, die es gegen jene zu verteidigen gilt, die sich gerne als Gutmenschen bezeichnen lassen. Überall auf der Welt erklingt das hemmungslose Kreischen der Infizierten; trotzphasig rotznasige Herrscher perforieren unsere Weltsicht ohne Unterlass und brennen die letzten Reserven unserer Lebensräume nieder, während die Streams der Fortnitekämpfer um die Aufmerksamkeit derer buhlen, die es eigentlich besser machen sollten als die spätsommerliche Generation. Die Treibjagd nationalistischer Narzissten auf das empathisch Denkende hat begonnen. 1973 erschien ein Science-Fiction-Film namens „Soylent Green“, deutsch „Jahr 2022 … die überleben wollen“; eine der ersten Ökodystopien der Filmgeschichte. Natürlich kam alles anders; noch wissen wir, wie Erdbeeren schmecken und werden nicht selbst zu Spekulatius verarbeitet und an uns verfüttert. Aber gar so illusorisch und an den grauen Haaren herbeigezogen erscheint dieses gute Stück Literatur durchaus nicht mehr. Zugleich kündet es heute davon, was mutige Literatur und Kunst bewirken kann. Wer als Kind diesen Film sah, betrachtet unsere Entwicklung mit anderen Augen und kann nicht behaupten, von der Lust zur Selbstzerstörung nichts gewusst zu haben. Außer er/sie behauptet immer noch, dass das alles Erfindung ist. Utopien, Dystopien, dazwischen wir im hier und jetzt … Der Herbst des Engelsjahres nimmt Fahrt auf und schon wird das Beuys-Jahr geplant. Pünktlich zum Hundertsten des Großkünstlers erleben wir im weltverändernden Herbst, dass tatsächlich jeder Mensch nicht nur Künstler ist, sondern auch Kleinkind war – und immer mehr der Mächtigen dies leider bleiben. Was können Kunst und Kultur ausrichten gegen diese Unwetter? Mehr als die erfolgs- und börsennotierten Ergebnisse der Kulturprominenten zählt das unverdrossene Arbeiten an den gemeinsamen Lebensverhältnissen, das barrierefreien Lehren möglicher Handlungsweisen und das Aufrechterhalten zumindest philosophischer Hoffnungen gegen Markt und Macht. Das Pflegen der stillen, kräftigen Mitte in jeder und jedem von uns selbst, der sozusagen körpereigenen kulturellen Kraft fernab jeder Rechthaberei. Literatur und Kunst stellen über den Weg der täglichen Erfindung unsere tatsächliche Realität wieder her, indem sie statt Eigenlob und Optimum die eigentliche Welt spiegeln, so düster sie auch sei. So ein still wirkender Mahner war Karl Otto Mühl, der am 21. August gestorben ist. Vor allem seine Romane aus dem Leben im und nach dem 2. Weltkrieg sind Ich-Betrachtungen ganz anderer Art, die er teilte, auf dass sie uns Erfahrung würden. Bei ihm lag dem „Ich“ stets ein „Du“ zugrunde. Literatur hilft: Wie immer mehr denn je. 4048 Weitere Informationen WZ KolumneDiese Kolumne in der Westdeutschen Zeitung