Sehen, was ist und was wir haben Denken mit den Füßen: Plädoyer für eine Kultur des Flanierens // 2. November 2023 Von Max Christian Graeff Auf geht es in die matschigen Tage; vor den Fenstern färbt sich vieles braun. Die Amseln beschwipsen sich in den Beerensträuchern an gärenden Früchten; die Faulen meckern auch schon mal am Futterhaus, dass es noch nichts gibt. Gute Sohlen sind gefragt, denn überall werfen sich uns Pfützen und rutschige Haufen in den Weg – und neuerdings diese ausgesoffenen, gestürzten Rollerleichen, manchmal noch leise blinkend; so viel Energie für‘n bisschen faulen Spaß. Noch sah ich niemanden damit zur Arbeit sausen oder gar auf Sightseeing durch unsere Stadt; es geht wohl wieder nur darum, brav zu probieren, was sich jemand sinnbefreit erdacht. Und schon fühlt man sich als grantelnder Feind alles Neuen, im Herbst des Lebens verglitcht. Max Christian Graeff - Foto: C. Paravicini So ist es aber nicht, und das beste Beispiel ist das Barmer Schwebodrom! Gehen Sie dort doch mal auf die Reise durch Zeit und Raum, durch eine faszinierende elektronische Illusion der Vergangenheit, in der auch erstaunlich (oder erschreckend?) viel Gegenwart steckt. Komplett wird das Erlebnis auf analogen, gutbesohlten Wegen durch unsere Wunderstadt, um ihre Löcher und Lücken – und eigene Wissenslücken – immer wieder neu zu entdecken. In dieser Boomtown der automobilen Überwältigung genoss der ungehinderte Nichtwahrnehmungsverkehr jahrzehntelang die höchste Priorität, was einen großen Teil dazu beitrug, dass wir uns hier so wenig schätzen. Auf der Wupperbrücke stehen bleiben, um nach den Laichgruben der Meerforellen zu schauen? Bloß nicht; die kann es ja gar nicht geben. In die Kulturclubs gehen, die aufgrund bester Arbeit schon wieder die Spielstättenpreise des Bundes erhielten? Keine Chance, da kann man nicht parken. Anhand alter Postkarten die Standpunkte suchen und Spuren der Stadtentwicklung finden? Nur was für Bekloppte! Die 133 Kunstorte der Woga ablaufen, als gälte es, die legendäre „Trimmspirale“ der BEK auszufüllen? Oder die Orte des openSky Jazzmeetings aufsuchen, an denen man lange nicht war? Guter Vorsatz fürs nächste Jahr… Laufen heißt, zu sehen, was wir haben – und damit auch, was neu, was gefährdet und was nicht selbstverständlich ist. In kaum einer vergleichbaren Großstadt lässt sich die Kultur des Flanierens, des Sammelns von Kunst und Geschichte, von Schicksalen, Einsichten, Orientierung und Argumenten so ergiebig pflegen wie in unserer, und in wenigen fällt es einem so schwer. Das Angebot ist vorhanden: Der Bergische Geschichtsverein, die VHS, das Museum Industriekultur, die Begegnungsstätte Alte Synagoge, das Stadtmarketing, Quartiersvereine und viele Initiativen bieten vielfältige, engagierte Angebote für Führungen und Exkursionen. Gerade geht das Themenjahr „1933 – Niemals vergessen!“ erschreckend aktuell aufs Ende zu. Und es gibt nicht nur die notwendigen, teils auch aufs Gemüt schlagenden Kulturerkundungen, sondern ebenso viele lehrreiche Gänge Richtung Zukunft und Vision: Sind Sie mal die geplante Seilbahntrasse abgegangen? Wandeln Sie schon auf den Wegen der Buga 2031, um fairer zu diskutieren über das, was möglich wäre, sofern wir das diverse, manchmal zerrissene, stets vom Zuzug sogenannter „Fremder“ sowie von Armut und Reichtum zugleich bereicherte und mitgetragene Wesen unserer Laborstadt etwas gutwilliger betrachteten? Die Zeit ist verwirrend, die Freiheit der Künste und vor allem vieler Menschen gefährdet. Laufen, sehen, denken: Der Langsamverkehr schickt das Gemüt auf die Überholspur, lässt uns Klarheit gewinnen und auch das sehen, was man nicht sehen mag. Nutzen wir den Herbst für die Kultur des Hinschauens! Ihre Meinung erbeten an: kolumne@fnwk.de 1686