Der Griff zu den Sternen Die einen heben ab, die anderen bleiben kleben // 14. Juli 2021 Von Max Christian Graeff Im Buchbastelkurs des Stadtprogramms Jugend-Kult flogen die Hauptfiguren von Marlenes Reisecomic zum Mond, ohne anfangs zu wissen, was sie dort wollten. Doch mit dem Zeichnen kam die brillante Idee: Neil Armstrong hatte dort eine Socke vergessen, die es nun zu finden und ihm nach Hause zu liefern galt. Na, logisch! Dass er gar nicht mehr lebt, ist der Fantasie egal, und die Story von der Kamera, die er angeblich dort oben vergaß, aber doch mit zurücknahm und im Wäscheschrank versteckte, konnte die Zehnjährige kaum kennen. So nah können sich Dichtung und Wahrheit kommen, wenn man noch (Selbst-)Vertrauen ins Welt-Erfinden hat. Max Christian Graeff - Foto: C. Paravicini Im Gegensatz zu diesem herzerfrischend ins selbstgebundene Heft gezeichneten Abenteuer ist in den orbitalen Umsatzräuschen der Herren Branson, Bezos und Musk nicht einmal mehr ein Hauch des einst nach Bubblegum und fantastischer Zukunft schmeckenden Zaubers eigener Kinderjahre zu spüren. Diese drei, übrigens gerne von Revolutionen sprechend, wenn sie die eigenen Gelüste meinen, verfeuern für kurze Minuten größtmöglicher Entfernung vom irdischen Elend und ein paar hyperemotionale Selfies galaktisch viel Brot für die Welt. Nicht eine Spur Sehnsucht nach Arkadien und keinen Funken von Kultur, Mitgefühl und Gemeinschaft mag ich darin entdecken, nur das Selbst und das Geld. Uns alle zieht es besonders jetzt in die Idyllen hinaus, in kurze Ferien von der Wirklichkeit – nicht außerhalb der Atmosphäre; ein paar verträumte Stunden im Schilf sind ja schon genug. Doch es ist wie im berühmten Bild des Barockmalers Guercino: "Et in Arcadia ego" funken nicht die faulenzenden Hirtenbengel per Whatsapp nach Hause, es ist die mahnende Botschaft des Totenschädels, den sie dort in der schönen Landschaft finden: "Wohin du dich auch sehnst, ich bin mit dabei." Dies ist nun freilich ein uralter Hut, der uns alle in zuweilen schweren Gedanken unter sich vereint, und zugleich eine Urszene des individuellen bewussten Denkens. Und was uns dabei hilft, dennoch oder gerade deshalb gerne miteinander zu leben, ist weder die Politik noch die Wirtschaft, sondern eben die Kultur als Raum der Künste, der Philosophie, der Wissenschaften und der Religion. Wir hörten in der Pandemie noch öfter als vorher, dass besonders die "frei" ausgeübte Kultur sich maßlos überschätze. An dieser Meinung ist nicht das Virus schuld; sie verbreitet sich, seit die Politik ihre eigentliche Kunst, unsere Beziehungen zu organisieren, aufzugeben begann. Zugegeben, die Ergebnisse der Künste kann man nicht essen, aber sie können die Jüngsten und Jungen – um bei denen zu bleiben, die selbst kaum von der Not der Coronazeit sprechen –durch die noch intuitiven, fantasiegetriebenen Fähigkeiten des Verstehens zu neugierigen, wissensdurstigen, umsichtigen Menschen machen, zu kulturellen Mitmenschen, bevor sie in die Bewertungszwänge und Fallstricke von Konsum, Leistung und Selbstoptimierung geraten. Hier sei aus Björn Krügers Kolumne von letzter Woche zitiert: "Damit sie lernen, dass sie dazu gehören, dass ihre Meinung zählt und ihre Stimme auch gehört wird." Nicht durch Reichweiten und synthetischen Jubel auf digitalen Spiegelkanälen, sondern im wirklichen Leben, fern von Arkadien. Wie es nach den Ferien weitergeht, weiß weder Groß noch Klein. Doch eines wird bleiben, wie es ist: Ein Kurztrip in den Weltraum kostet mehr als 100 000 weltträumende Besuche von KünstlerInnen im Schulunterricht. Für diese fehlt das Geld. – Was würden Sie denn wählen? Meinungen bitte an: kolumne@fnwk.de 2130