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Die Chance der Vielfalt im Sommerloch

Das Lernen der Zukunft kennt keine Ferien // 29. Juni 2022

Von Max Christian Graeff​

Zack, die großen Ferien sind da! Selbst meine Meisen sind vom großen Schweigen irritiert, das nach den Tumulten des Endspurts von der nahen Grundschule ausgeht. Ich erinnere mich an damals: Alle um einen herum verreisten mit Getöse ins große Erleben und erkundeten die weite, wilde Welt, während zuhause, in der Mitte des Nirgendwo, die Straßen leer vor sich hinstaubten und jemand dazu einen endlosen Schlager über Sehnsucht sang.

Max Christian Graeff - Foto: C. Paravicini
Max Christian Graeff - Foto: C. Paravicini

Heute ist es andersrum: Daheim kondensieren sich die großen Fragen der Welt und wer kann, flüchtet vor der Wirklichkeit in die Reinräume des temporären Vergessens. Sogar gut gebuchte Ferienkurse des Jugendamts wurden spontan so stark gekündigt, dass sie ausfallen müssen. Nun daddeln sich die Kinder, anstatt Bücher binden und Songtexte schreiben zu müssen, durch Blechlawinen, Wartehallen und Urlaubsreservate, solange es eben noch geht. Gefühlte Freiheit statt Sauregurkenzeit.

Dieser Begriff kehrt heuer zu den Ursprüngen zurück: Lernten wir ihn als ereignis- und nachrichtenfreies Sommerloch kennen, in dem manche Zeitungsente ertrank, so kehrt er nun zu den etymologischen Wurzeln zurück, sofern man der Schriftstellerin Salcia Landmann folgen mag: Nach ihr verballhornte das Rotwelsch, der Slang mittelalterlicher Vaganten und Gauner, auf dem Abenteuerspielplatz der Sprache nämlich den jiddischen Begriff der „zoress- und jokresszeit“, der „Zeit der Sorgen und Teuerungen“. An diese Deutung werden wir uns leider wieder zu gewöhnen haben.

Das Sommerloch staubt nicht mehr, manchmal droht es im erst beginnenden Extremwetter davon gespült zu werden. Auch die Wellenvorhersagen sind nicht gerade gut und die zunehmenden Kriege spielen ihr eiskaltes, bluttriefendes Repertoire. Vom ungeheuren Leid an allen Fronten abgesehen (was ja kaum möglich ist) müssen wir auch die tägliche Kulturzerstörung betrachten: Bevorzugte Angriffsziele sind Schulen, Bibliotheken und Museen, denn hier trifft jedes Geschoß ins Herz; die weitere Entwicklung der getroffenen Gesellschaften wird nachhaltig ausgebremst.

Umso wichtiger wären die Bildung und Unterhaltung derer, die mit Glück hier bei uns unterkamen – natürlich nicht nur die Kinder und Jugendlichen aus der Ukraine, sondern jene aus allen brennenden und hungernden Ländern. Sie werden, falls wir es denn zulassen, die Kultur mitbestimmen und zum Überleben befähigen. Noch ist unsere Bereitschaft zum Teilen und Mitteilen nicht gewährleistet. Eine wichtige Veranstaltung zu diesem Thema findet gleich heute abend statt: der 24. Jour Fixe des Freien Netz Werks Kultur, zum Thema „Chance Diversität“, um 19 Uhr im Café Swane in der Luisenstraße.

Viele dieser diskursiven Veranstaltungen klingen und sind unlustig, ich selbst drücke mich oft um sie herum. Doch betrachten wir die Vermittlung nicht nur der gewesenen, sondern vor allem der kommenden Kulturerscheinungen als Basis dafür, in der Zoress- und Jokresszeit über den Ferientag hinaus miteinander zu sprechen und zu leben, dann sind sie wertvollste Arbeit am Fundament der kommenden Gesellschaft, falls es diese noch geben soll.

Denn mit der Beschränkung auf die ballernde Festivalitis eines kurzen Sommers machen wir es uns allzu leicht. Die Theoriearbeit der frei arbeitenden Künstlerinnen betrifft nur am Rande jene selbst; alle Interessierten und Beunruhigten sind gefragt, denn nicht nur das umzäunte Wildgehege der geregelten Kulturarbeit, sondern die gesamten grenzenlosen Bedingungen der Kultur unseres Überlebens stehen derzeit auf dem Spiel.

Ihre Meinung bitte an: kolumne@fnwk.de

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