Sammeln fürs Regal oder für den Augenblick? Archive und Kunst sind Wissen und Gewissen einer Stadt // 16. November 2022 Von Max Christian Graeff Nun ist er vorbei, der frühlingshafte Herbst, in dem die Erdbeeren wieder zu blühen begannen, und nun sollten die jungen Elstern das sichere Anlegen der Futtervorräte langsam mal gelernt haben. Noch plündern sie gegenseitig ihre Verstecke und jagen sich krakeelend durchs Laub. Wenn die Augen nach vielen Bildschirmstunden allzu eckig wurden, ist dieses Theater in der „richtigen“ Welt vor dem Fenster stets eine Freude. Nur verstehen werde ich das Plappern dieser Rabauken wohl nie, obwohl ich während eines Lockdowns mal ein ganzes Archiv ihrer Sprache durchhörte. Max Christian Graeff - Foto: C. Paravicini Was sie zu erzählen hätten? Den Lauf der Welt aus ihrer Sicht, denn immerhin können sie 15 Jahre alt werden, und 2007 sah unser Leben doch noch etwas anders aus. Der Sachstandsbericht des International Panel on Climate Change zum Beispiel verriet Alarmierendes über die Unumkehrbarkeit der Erwärmung, nur Folgen hatte er nicht; die Leugner behielten Oberhand. Um mir solche oft spontanen Fragen beantworten zu lassen, konsultiere ich gerne und kritisch das Online-Lexikon Wikipedia, das mir im Fall gut gepflegter Einträge auch Links zu Archiven verrät, die ich sonst niemals gefunden hätte. Mit laienhafter bis semiprofessioneller Archivarbeit hatte ich schon das ganze freie Berufsleben lang zu tun: die Katalogisierung der Tonbänder im Paul-Pörtner-Nachlass in der Stadtbibliothek, die Recherche für zu schreibende Biografien und Sachbücher noch ohne Internet, das Weiterleiten gefundener Konvolute an die möglichst richtige öffentliche Sammelstelle, ein Künstler-Werkverzeichnis mit Hunderten zu fotografierenden und zu beschreibenden Bildern, Mitarbeit an diversen Autoren- und Themenarchiven … Auch während der Corona-Stipendien sammelte, speicherte und verlagerte ich Informationen, die hoffentlich einmal anderen für Forschung und Vermittlung dienlich sein werden – zum Beispiel über das historische Wuppertaler Unternehmen Dr.-Tigges-Fahrten, das erst unzulänglich öffentlich dokumentiert ist und doch die gesamte Tourismusbranche verändert hat. Manchmal scheint das ganze Dasein nur noch aus Karteikarten zu bestehen, und wenn dann die Frage kommt, wozu man das alles in einer verglühenden Welt noch macht, gehe ich schnell zum Fenster, zu den Elstern … Archive sind die Grundlage des Forschens und des öffentlichen und demokratischen Wissens, des Bewusstseins, der Wandlungsfähigkeit und der Kultur einer Gesellschaft und einer Stadt. Oft arbeiten sie im Schatten besser sichtbarer Institutionen und ihre wirtschaftliche und personelle Struktur ist zunehmend bedroht. So gerne wir uns in der Gegenwart auf das fluide Feiern der Momente konzentrieren: Wer an den Archiven spart, verhindert, dass wir uns einst an heute erinnern können. Für alle, die sich lieber den Empfindungen des Augenblicks widmen, bietet die zehnte Ausgabe der Benefiz-Auktion „Kunst kann‘s“ am Donnerstag in der Kunsthalle Barmen die beste Gelegenheit, sich etwas zu gönnen und zugleich Gutes zu tun: Die Erlöse gehen wie immer an die lokale Kinder- und Jugendarbeit. Bisher spendeten 63 Künstlerinnen und Künstler aktuelle Werke vom Handtaschenformat bis zur Großmalerei, und hinter den Kulissen sorgt die Auswahl schon wieder für heiteren Klatsch und Aufruhr. Es ist – ganz so, wie es sein soll – ein veritabler Society-Event. Das sehr konkrete Marmorwerk fürs Privatarchiv, auf das ich ein Auge warf, lässt andere nur mit dem Kopf schütteln, was meine Chancen erfreulich erhöht. Im Sinne der Jugend: Überbieten Sie mich! Anregungen und Kritik gerne per E-Mail an kolumne@fnwk.de 1504