Dampfplauderei ist heute alltäglich Von Max Christian Graeff Benutzen Sie noch ein Telefonschränkchen? Dieses kleine Tor zur großen Welt, mit Hocker davor und Schmierpapierbergen, Stiften und den Fotokalendern der Cousinen an der Wand? Auf unserem Kommunikations-Altar durfte eines nie fehlen: die Stoppuhr! Im Quasseldrang meiner Pubertät galt für das Ortsgespräch von 8 bis 18 Uhr: 90 Sekunden für 23 Pfennig, ab Solingen nur noch 45 Sek. und ab 100 km nur noch zwölf! Bei Gesprächen ins Ausland klickte es schneller, gar sekündlich im Hörer. Max Christian Graeff - Foto: C. Paravicini Wir Kinder mussten die Zeiten stoppen und alles über einen Freibetrag Hinausgehende selbst bezahlen; wir hätten die Familie sonst schlichtweg ins Armenhaus geplappert! Kurzum: Man musste sich im Voraus überlegen, was zu berichten sei und welcher Witz sich wirklich lohnte. Nein, besser als heute war das nicht, nur anders. Nebenbei trainierte es darin, vor dem Sprechen erst noch zu denken. Man war verantwortlich, auch für die Lebenszeit und das Geld des Anrufenden. Die Dampfplauderei ist heute alltäglich; sie kostet schließlich nichts. Wenn zugleich festzustellen ist, dass die Spielräume im übersättigen Denken nicht nur nicht mehr ausgenutzt, sondern freiwillig verkleinert werden, werde ich ratlos. Allein die Beispiele der letzten Tage: Karnevalswitze, die jede Abweichung von normierten Funktionsgeschlechtern sogleich ins Sexuelle und in gekachelte Räume zerren … Das ist altgewohnt, aber dass sich Politiker mit solcher Schelmerei so würdelos des eigenen Gesichts berauben – ernüchternd. Daneben gab es wie immer vielfache pseudojecke Äußerungen, die zum Beispiel „schwul, pervers und arbeitsscheu“ in eine kausale Linie stellten und die Sache in der Entschuldigung nur verschlimmbesserten: Der Witz „ging am Ziel vorbei“; man habe nicht „gegen gesellschaftlich Schwächere“ agieren wollen. Bah! Erst denken, dann schämen, dann telefonieren. Und dann der vielschichtige „Greta-Effekt“ der Schulstreiks, begleitet von einem Gebell über „politischen Kindesmissbrauch“, dem sich viele Stimmen aus bürgerlich-mittigen Lagern anschließen. Jahrelang beklagten wir eine unpolitisch verfressene Jugend und waren diese doch nur selbst. Nun organisieren sich viele in Streiks, denen Debatten und Diskussionen in Gruppen und AGs vorausgehen; die Akteure lernen selbstverwaltet ihr Zuhören und Sprechen. Und wir Alten nur: Nachsitzen! Wuff. Und nun noch mehrere neue, stümperhaft formulierte Petitionen gegen eine „Gendersprache“: Reaktionäres Gekrächze angeblicher Verteidiger „unserer“ Sprache, getrieben durch Kontrollverlust-Ängste und Rechthaberei. Sie kursieren vor allem auch in Schriftstellerkreisen, was mich als Autoren fassungslos macht! Nebenbei: Das Thema war bereits aktuell, als die Einheit noch 23 Pfennig kostete und bei uns die Erstausgabe der Emma auf dem Telefontischchen lag – um darüber zu sprechen! Zum Glück hat sich da etwas bewegt; es ist ja auch 40 Jahre her … Sprache ist lebendig, solange wir dies sein wollen und es den Nachfolgenden nicht verbieten. Spielräume sind zum Öffnen da! 2822 Weitere Informationen WZ KolumneDiese Kolumne in der Westdeutschen Zeitung