Das ist unsere Zeit! Erst das Fressen, dann die Moral, brachte es Brecht auf den Punkt // 25. November 2020 Von Torsten Krug Nicht nur im Jahre Engels (war da was?) kann man es schreiben: Marx und Engels formulierten das Entwicklungsgesetz der menschlichen Geschichte als „die bisher unter ideologischen Überwucherungen verdeckte einfache Tatsache, dass die Menschen zuerst essen, trinken, wohnen und sich kleiden müssen, ehe sie Politik, Wissenschaft, Kunst, Religion usw. treiben können“. Erst das Fressen, dann die Moral, brachte es Brecht auf den Punkt. Selbstverständlich gilt dieser Materialismus auch für Künstler. Torsten Krug - Foto: Andreas Fischer Natürlich gibt es längst Rote Listen mit bedrohten oder zu Grunde gegangenen Kulturorten. Erste Städte wie Bamberg oder München geben an, Ausgaben für Kultur senken zu wollen – eine Entwicklung, die in vielen Städten mit sich leerenden Kassen droht. Das ist bitter und für viele existenziell bedrohlich – „Musizieren verlängert das Leben“, finde ich als Bonmot im Internet, „es sei denn, man lebt davon“. Doch den düsteren Aussichten zum Trotz mehren sich Stimmen und Impulse aus der besonders bedrohten freien Szene, sich nicht allein auf die finanzielle Misere zu fokussieren. Klar ist das Monetäre die Währung, in der sich politische Relevanz, gesellschaftliche Aufmerksamkeit und der Wille zur Kultur ausdrücken. Doch mit dem Angstblick aufs Geld wiederholen wir jene Struktur, die wir in unserem Arbeiten oft kritisieren und verändern wollen. Überlegungen für ein solidarisches Grundeinkommen, das jeder und jedem eine gleichberechtigte Chance auf selbstbestimmte Entwicklung geben könnte und jüngst sogar Eingang ins Grundsatzprogramm der Grünen fand, setzen hier an. Die tiefste Sehnsucht führt nicht zum Geld, nicht zur Macht, sondern ist die nach Sinn. Sinnhaftigkeit, ein immer wieder neues Verstehen für uns und unsere Welt ist das stärkste Angebot, das Kunst und Kultur machen können. Mit anderen Worten: Das ist unsere Zeit! Wenn wir als Kunstschaffende durch diese Zeit kommen, die in gleichem oder noch höherem Maße viele andere Berufsstände bedroht, haben wir viel zu tun. Es fällt mir selbst nicht leicht in diesem stillen und finsteren November, der vermutlich heute noch bis ans Ende des Jahres verlängert werden wird, mich an die Resilienz-Kraft von Kunst und Kultur zu erinnern. Wir können ihr einiges bis alles zutrauen. Das Bedürfnis nach Theater, Filmen, Texten, Bildern wird nicht verschwinden, lässt sich nicht downlocken, sondern steigt in dem Maße, indem wir auf Sinn stiftende Erlebnisse angewiesen sind. Tatsächlich sind Kunst und Kultur nicht relevant für das Überleben, doch sie sind lebenswichtig. Oder, wie ich es über einem Kino geschrieben sah: „Kultur ist nicht alles, aber ohne Kultur ist alles nichts.“ Das Digitale bietet die Möglichkeit, Menschen zu erreichen, die möglicherweise nie in einem Theater oder bei einem Jazzkonzert waren. Die Vermittlung von Kunst und Kultur ist in eine neue Dimension eingetreten. Selbstverständlich kann das Netz die gemeinsame Präsenz und Resonanz in der körperlichen Begegnung nicht ersetzen. Die Flucht ins Virtuelle ist ja eine Flucht vor dem Körperlichen und seiner Verletzlichkeit, beispielsweise durch das Virus. Dennoch ist es wichtig, immer wieder die Zukunft in dieser Krise zu sehen. Ich fange mit einer Frage an: Wie müsste unsere Lebensweise aussehen, wollten wir das nächste Virus vermeiden? 4053 Weitere Informationen WZ KolumneDiese Kolumne in der Westdeutschen Zeitung