Auch der Kunst und Kulturbetrieb ist nicht frei von Übergriffen Zwischen Zuflucht, Ermächtigung und Skandalen // 14. Juni 2023 Von Max Christian Graeff Endlich ist er da, der so lange erwartete Frühsommer, mit längsten hellen Tagen voll wohliger Wärme … doch statt der dringend nötigen Tiefenentspannung dreht der Fleischwolf des Zeitverstreichens auf Hochtouren und mahlt alle Anflüge erfüllender Ruhe zu Brei. Umso früher die Ferien hereinbrechen, desto hektischer geht es vorher zu: Alle wollen alles und sofort. Das wollen wir doch sowieso nur noch alle: Eben alles, kein Gramm weniger, und zwar zackzack! „Me first“ statt „me too“, wie es (mit nur wenigen Ausnahmen) auch die Präsidenten so sagen, weil man damit nur gewinnen kann. Für den Hausgebrauch: Mein Kugelgrill kommt mit ins Handgepäck, basta! Max Christian Graeff - Foto C. Paravicini Manchmal weiß ich – wie Sie merken – einfach nicht, womit zu beginnen ist, bis die Kolumne auch schon ‚rum ist, so wie die Ferien, und alle Schlachtfelder wieder nach Lebkuchen riechen. Als gestern die Meldung kam, dass laut einer Großbefragung ein Drittel aller Männer bis 35 es opportun finden, Frauen durch Gewalt „Respekt“ abzuzwingen, tanzten die Synapsen Hiphop. Dieses offene Bekenntnis dazu steigert nochmal die Wut über das Wissen, dass es eh passiert, und die Dunkelziffer hinter der Befragung ist wohl enorm. Es sind nicht nur die Mini-Trumputins von nebenan; die Predatoren langen ebenso in gelehrten und sozusagen gesitteten Kreisen zu, in Bürgervereinen, in der Uni, in Stadttheatern – nicht nur im Auditorium. Der Kulturbetrieb war noch nie ein Schutzraum vor Übergriff und Anmaßung, vor allem im Alltag, fern von validen Backstage-Skandalen. Zugleich gilt jedoch auch, dass in den noch nicht professionellen Kunst- und Kulturszenen, im Laientheater, in der Musik, den bildenden Künsten und natürlich im Tanz unerhört viele junge Frauen, Mädchen und auch Jungs den alltäglichen Gewaltszenarien entfliehen und sich gegen sie stärken können. Auch unter diesem ganz „unkünstlerischen“ Aspekt sind Kunst und Kultur persönliche Bildung und zuweilen Rettung, ein Gewahrwerden der Situation und eine Ermächtigung, den lebenslangen Kampf gegen den täglichen Übergriff aufnehmen zu können. Dies sollte auch ein genereller Gesichtspunkt in der Debatte um Kulturgelder sein, um den Sinn solcher Freiräume, auch wenn sie enorm teuer werden mögen wie das weltgültige Pina Bausch Zentrum, gegen dessen Aufwand gerade wieder so eifrig angekreischt wird. Doch geht es dort nicht nur um schöne Bewegung, sondern eben um eine Schule der Gleichberechtigung und Gewaltfreiheit mit lebenslanger Wirkung für unzählige Menschen. Zu ihrem Karrierebeginn sang Gitte Haenning „Ich will ‚nen Cowboy als Mann“ (genau das schrien die Synapsen bei der Prügelnews zuerst) und meinte ganz aufrichtig noch „echte“ Männer wie deSantis, Berlusconi und auch all ihre hiesigen Konsorten ab der linken Mitte rechts, die alle Wachheit (nichts anderes bedeutet „woke“) nurmehr ins Grab prügeln und jegliche Bildung zum kultur- und liebensfähigen Menschen mit immer brutaleren Attacken zerstören. 30 Jahre später sang Gitte dann „Ich will alles, und zwar sofort“ und meinte das feministisch, doch geholfen hat es nichts; auch in der Schlagerwelt wurde geschlagen, dass es nur so klatschte. Und „alles zu wollen“ ist heute eben wieder volles Rohr Lindemann und Billigfleisch. Ich selbst lernte die Verachtung von Gewalt zur Durchsetzung von Vorteilen, Lüsten und Gewinnen vom Vater (Jahrgang 1918), der dieses Lebensmodell nicht nur unkultiviert, sondern schlicht zu altmodisch fand. Die Umsetzung der Utopie vom gebildeten Herzen fängt unmittelbar bei uns selber an. Die Räume der Kulturarbeit sind – jenseits aller Kunst – dafür überlebenswichtig. Grillen Sie uns Ihre Meinung, unter: kolumne@fnwk.de 1344