Wieder flüssig werden, nicht überflüssig Das Bedürfnis nach künstlerischer Intelligenz / 25. Januar 2023 Von Max Christian Graeff Letzte Woche schrieb Herr Becker in seiner famosen Kolumne Kritisches zur Bedrohung aus der Digitalretorte, der „Künstlichen Intelligenz“, die wir neuerdings alle befragen können. In vielen oft ebenso lesenswerten Artikeln (zum Beispiel auch in Tine Lowischs FNWK-Kolumne vom 16.10.2018, nachzulesen auf www.fnwk.de) glüht neben dem Staunen über die Kraft der Erfindung auch die Sorge über ihre Nebenwirkungen: Die Suche nach der Ausstattung einer Beschreibung oder Meinungsäußerung, manchmal nach dem ganzen Verbund aus Wand, Tapete und Bilderschmuck der Sprache durch eine Maschine beenden zu lassen, mag für manche ein Segen sein. Da der Gedanke jedoch unabhängig davon, ob die Ausdruckskraft ungeübt oder trainiert ist, meist direkt beim Sprechen entsteht, raubt der Apparat uns mit jedem glänzend polierten Produkt das Wichtigste: die Wirkung von Fehlern, Stammeleien, Irrwegen, von persönlichen oder regionalen Färbungen, eben die individuellen Zeugnisse unseres Suchens. Das künstliche Ergebnis erfüllt den Wunsch nach Selbstermächtigung so, wie es einige Böller-Großkunden vor Silvester auf TV-Nachfrage formulierten: „Ich hab’ jetzt jahrelang nichts gemacht; ich muss endlich wieder mal was machen.“ Nun dürfen sie das Schreiben befehlen. Max Christian Graeff - Foto C. Paravicini Der uralte Wunsch, sich in bangen Tagen in einer auseinanderfliegenden Welt nicht machtlos fühlen und „etwas machen“ zu wollen, wurde einst durch kulturelle Handlungen bedient, zum Beispiel durch den Karneval: Verkleidungen und Pointen basteln, sich neue Gesichter geben, gemeinsame Ekstasen vorbereiten – auch das konnte Kunst sein oder zur Kunst führen; heute wirds im Netz bestellt und selbst die Büttenrede schreibt die „KI“. Wird nun in Tagen, an denen die Nachrichten vom Sprechen über Stahlgebilde und Feuerkraft beherrscht sind, sogar das hohe Gut der liebenswerten Blödheit, des Nichtwissens, des Um-den-Verstand-Redens überflüssig? Wo doch die verstörenden Meinungswirren der Coronazeit und auch die unerforschten Folgen der Krankheiten noch gar nicht ausgestanden sind? Für solche Fragen kann nur die künstlerische Intelligenz im Supercomputer des eigenen Leibes auf die Suche nach Hoffnung gehen.Diejenigen, die von der Ausübung freier Kunst- und Kulturäußerung leben, trifft die Situation an jenem sensiblen Punkt, an dem viele Menschen – sowohl Kunstschaffende als auch Kunsterlebende – zuerst mal fragen: Was habe ich davon? Was muss ich dafür geben und ist es mir das wert? Seit Langem war die Frage nicht mehr so präsent, ob das eigene Denken und Tun auf dem weiten Feld zwischen Selbstverwirklichung und Weltveränderung nicht vielleicht doch einfach überflüssig ist. Öfter als beim Sägen, Kleben, Schreiben oder Recherchieren erwischt sie mich beim Zurechtbiegen von Konzepten und Förderungsanträgen, bei Berichten, Budgets und Evaluationen. Ein alter, großer Künstler unserer Stadt und Welt, die er tatsächlich verändert hat, sagte mir gestern, für ihn und seinesgleichen sei die Kunst einst nur verwaltungsfrei möglich und von Tag zu Tag, von Ton zu Ton und Farbe zu Farbe gegen das Establishment und die Durchplanung jeglichen Handelns gerichtet gewesen. Heute sei es für Kunstausübende nötig, sich jederzeit zu erklären und zugrunde zu verwalten. Womit die „KI“ fortan wohl auch das Kunstmachen und die Kunst selbst verändern wird, wenn wir ihr nicht jene andere „KI“ entgegensetzen, die Künstlerische Intelligenz des Unberechenbaren, des Flüssigen, Liquiden, die uns Sinn statt Formalitäten gibt, auch wenn wir mit ihr wohl nur schwer überleben können. Ihre Meinung bitte an kolumne@fnwk.de 1688