Heiligt der Fleck die Mittel? Das Wort ist ein Virus, das uns immuner macht. // 4. März 2020 Von Max Christian Graeff Es ist erstaunlich: Mitten im dominierenden Grau scheinen einige Bäume die Zeit zu vergessen; sie knospen schon um die Wette, als sei der Frost Geschichte. Doch dies, sagen die Alten, sei allein vom Wind abhängig, den keine Robinie vorhersagen kann und das Leben an sich also ein Risiko im Wettkampf um die prime time der Bestäubung ist. Erich Kästner konstatierte kurz und bündig: „Wird’s besser? Wird’s schlimmer? fragt man alljährlich. Seien wir ehrlich: Leben ist immer lebensgefährlich.“ Max Christian Graeff _ Foto: C. Paravicini Dagegen ist ein Hauptproblem dieser Tage vor allem ästhetischer Natur: Der Minister sagt, wir sollen in die Armbeugen niesen, was ich gestern in der Schwebebahn brav tat. Der Fleck auf dem Ärmel war eklig, schwer zu entfernen und den Nebenstehenden keine Beruhigung. Dann doch lieber, falls das Tempo fehlt, das altmodische Baumwolltaschentuch. Als kleines Kind hatte ich welche, die selten sind: mit ulkigen Wörtern drauf, zwei gar mit kurzen Versen, die ich leider nicht mehr weiß. Ich lernte mit ihnen, dass nicht nur gute Laune und Grippe ansteckend sein können, sondern auch das Wort, der Reim, das Lesen all dessen, was uns im Leben begegnet und manchmal beschwert. Der Virus, der uns derzeit zumindest mental fest im Griff hat, setzt Symbolbilder: „No hands“, der durchgestrichene Handschlag an Laden- und Theatertüren, überdeckt das Handgeben, das nach dem Anschlag von Hanau gerade auch von muslimischen Mitbürgern angeboten und eingefordert wurde. Die Worte jenseits der Werbe- und Mitteilungssprache verklingen so schnell; sie scheinen kaum noch Chancen zu haben gegen das Zusammenspiel von Infizierten- und DAX-Werten. Noch vor sich selbst scheint der Mensch das offene, das diskursive Wort in Quarantäne gesteckt zu haben – wo es einem nicht mehr zufällig begegnet, sondern man es suchen, aufsuchen muss. Nun wurde auch die Leipziger Buchmesse abgesagt. Auch wenn es durch die Masken schwer gewesen wäre, den Autoren aufs Maul zu schauen, sollte die Messe Zeichen setzen: dafür, wie das vielfältige Ausformulieren der Gegenwart die kulturellen Immunitäten und die Widerstandskräfte des Geistes stärkt und gegen die Dauerberieselung durch die Sprachprodukte des Marktes und der Mächte wirken kann. Die Absage ist bitter: Das Handwerk des literarischen Schreibens floriert in der nur mäßig organisierten Vielfalt freier Kulturtreibender. Viele von ihnen werden gerade durch abgesagte Veranstaltungen, durch mediale Verdrängung und politische Angriffe wirtschaftlich beschädigt, ohne Chancen auf Ausgleich. Aber wir sind es gewohnt: Das mitdenkende Wort wird überleben. Auch die Literatur Biennale Wuppertal wirft ihre Lichter voraus: Vom 14. bis zum 23. Mai lädt das Kulturbüro zu Lesungen und Vorträgen, in denen sich zeigt, dass die Literatur sich nicht nur selber meint, sondern auch hinter allen anderen Kultursparten steckt. „Word is virus“ schrieb William S. Burroughs 1964 in „Nova Express”, beziehungsweise „Word begets image and image is virus“: Wort erzeugt Bild und Bild ist ein Virus. Es scheint, als könnten wir dies erst heute richtig verstehen. Das Wort in Quarantäne ist unwirksam. Wir müssen es niesen, husten, teilen. Es kam – und darin waren sich der Underground-Poetenfürst Burroughs und der gerade verstorbene Weltdichter und Befreiungstheologe Ernesto Cardenal für einmal einig – aus dem Weltall zu uns, als ein Virus, das im Lesen wie im Leben Flecken hinterlässt. Lassen Sie sich anstecken, ob mit oder ohne Hand. 2730 Weitere Informationen WZ KolumneDiese Kolumne in der Westdeutschen Zeitung