Zwischen den Jahren: Zeit für Verluste und Abschiede 27. Dezember 2023 Von Uta Atzpodien „Eine ganze Gesellschaft ändert für eine bestimmte Zeit ihren Rhythmus“, so hörte ich kürzlich im Radio den Philosophen und Journalisten Jürgen Wiebicke zum Flair des Weihnachtsfestes und der Tage zwischen den Jahren, eine „Zeit des Durchatmens, des Entschleunigens, eine Gelegenheit, auf andere Gedanken zu kommen und das eigene Leben zu überprüfen“. Genau danach sehne ich mich: Es ist, als ob sich das Leben mit Raum dafür neu sortiert. Die Erfahrungen bahnen sich ihren Weg durch den inneren Verdauungsprozess. Uta Atzpodien - Foto: Ralf Silberkuhl Letzte Woche ist meine frühere Schwiegermutter Nitis Jacon in Brasilien gestorben. Sie war eine kraftvolle Persönlichkeit: Regisseurin, Festivalmacherin, Politikerin und Psychoanalytikerin, Mutter und (Ur-)Großmutter. Es ist, als ob eine Wolke in mir hängt, eine tiefe Traurigkeit, die mir immer wieder Tränen in die Augen schwemmt. Erinnerungen flackern auf: an gemeinsame Momente, die Jahre der Zusammenarbeit für das internationale Tanz-, Theater- und Musikfestival in Londrina, das FILO. Im Norden des brasilianischen Bundesstaates Paranás wurde es 1968 als Studentenfestival gegründet, wuchs stetig weiter und etablierte schwungvoll Kunst und Kultur voller Begeisterung und Engagement über die Jahre hinweg als Movens gesellschaftlicher Entwicklungs- und pulsierender Teilhabe-Prozesse. Mutig war Nitis, scheute Reibungen nicht, schon damals nicht während der Militärdiktatur, als sie mit ihrer Theatergruppe Proteu fantasievoll die Zensurbehörden austrickste und nie aufhörte, die eigene Stimme zu erheben. Viele Geschichten klingen nach, eng verknüpft mit der Geschichte meiner zweiten Heimat Südamerika, die jetzt zwischen den Jahren mehr Raum finden, um erinnert zu werden, was beim Abschiednehmen hilft. „Die unendliche Erinnerung“ heißt ein chilenischer Dokumentarfilm, der gerade in die deutschen Kinos kommt und bereits auf der Oscar-Shortlist steht. Er gehört auch zu meiner Erinnerung, denn beide Hauptdarsteller durfte ich in den 90er-Jahren kennenlernen, als der Berliner Regisseur Alexander Stillmark und ich in Santiago de Chile Heiner Müllers „Der Auftrag. Erinnerung an eine Revolution“ im Goethe-Institut inszenierten. Renommierte Hauptdarsteller des Dokumentarfilms der Filmemacherin Maite Alberdi sind die Schauspielerin und ehemalige Kultusministerin Chiles, Paulina Urrutia, und ihr Lebensgefährte, der Journalist Augusto Góngora. Zeit seines Lebens hat er sich mutig für die Erinnerung engagiert. Vor zehn Jahren ist er an Alzheimer erkrankt. Der Film zeigt, so durfte ich bei der Berlinale erfahren, wie Paulina liebe- und hingebungsvoll Augusto im mit der Krankheit einhergehenden Verlust begleitet. Der berührende Umgang mit der Vergänglichkeit ist unendlich kraftvoll, weil er voller Liebe und Wertschätzung geschieht. Wie gehen wir mit Trauer um, mit Abschieden? Als Weggefährte begleitet mich in diesen entschleunigten Tagen das Buch „Die Zeit der Verluste“ von Daniel Schreiber, der vom großen „Tanz der Verdrängung“ in ungewissen und überfordernden Zeiten spricht. Hier flackert eine kürzliche Erfahrung auf: Wie sehr der Tanz, Kunst und Kultur sich der Aufgabe stellen können, Verluste und traumatische Erfahrungen zu verarbeiten, hat kurz vor Weihnachten die Performance „The traces“ von Tetiana Znamerovska und Kateryna Pogorielova tief berührend gezeigt. Sie war auf der Insel und im entstehenden Pina Bausch Zentrum zu sehen. Ich nehme diese Eindrücke als Appell mit ins neue Jahr: Genau diese kreativen, menschlich-wertschätzenden Gestaltungsräume brauchen wir, um mit den Herausforderungen unserer ungewissen Zeit umgehen zu können. Feedback an: kolumne@fnwk.de 1901