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Die Kultur überschwemmt ihre Möglichkeiten

Soll man die Boomer feiern, wie sie fallen? – eine Fortsetzung // 11. September 2024

Von Max Christian Graeff

Als ich vor hochsommerlichen drei Wochen an dieser Stelle kurz über Notwendig- und Unmöglichkeiten von Kulturarchiven und Nachlassbearbeitungen nachdachte, trug der Text selbst wesentliche Merkmale des Themas: In der Regel reichen der Platz und die Zeit nicht aus, um die aufwerfenden Fragen zu bearbeiten. Seither haben sich im persönlichen Umfeld bereits neue Aufgaben gestellt; ein Orkus nach dem anderen öffnet sich: In der römischen Mythologie steht dieser Begriff für den Abgrund und Zerfall, in der griechischen personifiziert er die bindende Kraft eines Eides.

Max Christian Graeff - Foto: C. Paravicini
Max Christian Graeff - Foto: C. Paravicini

Beides sei hier freilich nur symbolisch erwähnt für die große Zwickmühle des Bewertens und Bewahrens. Diese beginnt nicht erst im Atelier als Ort anerkannter künstlerischer Leistung, sondern schon vor mancher rein konsumierenden Bücherwand. Kann und soll die enorme Flut, die sich in den reichen, freien und industriell optimierten Jahrzehnten unserer unnormal komfortablen Lebenszeit aufgestaut hat, überhaupt entsprechend bewahrt werden und welchen Preis zahlt die Zukunft dafür?

Dies lässt sich – außerhalb des individuellen Handelns – selten so leicht beantworten wie zum Beispiel beim Wuppertaler Pina Bausch Archiv, auf das die internationale Welt des Tanzes und Tanztheaters kaum mehr verzichten kann: Seit mehr als 14 Jahren betreibt die Pina Bausch Foundation diesen einzigartigen Fundus mit inzwischen mehr als 300 000 Fotos, mehr als 9000 Filmen, Arbeitsmaterialien und mehr. Vieles davon ist auch für Sie von zuhause aus im digitalen Archiv und ohne große Vorkenntnisse zu erkunden.

Andere lokale Themen bereiten mehr Sorgen: Das Stadtarchiv unserer an Historie und Zusammenhängen überreichen Stadt hat keinen der Fülle und Bedeutung angemessenen Ort und hinkt mit der Digitalisierung anderen Städten hinterher. Dies potenziert sich, wenn im Verglühen der Boomergeneration und in der trendigen Loslösung von materiellem „Ballast“ eine Flut von Materialien frei wird und eigentlich zum Nachvollziehen, Erforschen und Lehren aufgefangen werden müsste.

Allein die Verwaltungsakten der institutionellen wie auch der freien Kunst- und Kulturprojekte seit der Wuppertaler Nachkriegszeit böten höchst sinnvolle Arbeit für weitere Vollzeitstellen; das allermeiste davon wurde still und heimlich in Amtskellern und privaten Büros zu Pappmaché. Umso wertvoller sind die erhaltenen Sammlungen, in den platz- und finanzschwachen Museen, Bibliotheken und weiteren Institutionen sowie in vielen privaten Schränken von leidenschaftlich Bewahrenden, zum Beispiel auch im Bergischen Geschichtsverein.

Und auch jüngere, dynamischere Vereine wie unter anderem der Zweitzeugen e. V. kümmern sich um das relevante Transportieren und Transformieren von Erinnerungen, die in diesem konkreten Fall zwingende Mahnungen für die Zukunft sind.

Auf die vielen Fragen gibt es – natürlich – keine einfachen Antworten. Förderungen wie das Projekt Werkverzeichnung der Stiftung Kunstfonds kommen Jahre, Jahrzehnte zu spät. Die Stadt selbst bietet noch keine Handreichung für Privatleute, die – absehbar oder unerwartet –auf einem kulturhaltigen Nachlass sitzen, den sie gerne wertschätzen würden, ohne das eigene Leben zu riskieren. Die Vergangenheit kämpft stets mit der Gegenwart; auch in der Kunst gibt es keine Gerechtigkeit. Ominöse ewige Werte können uns – erst recht inmitten heutiger Probleme – ziemlich schnuppe sein. Das Lernen und Forschen, das Verständnis der kulturellen Zusammenhänge jedoch sind unverzichtbare Grundsteine der kommenden Künste und damit der Hoffnung auf weitere Existenz. Und um Archive lebendig werden zu lassen, brauchen wir sie erst einmal.

Ihre Meinung bitte an kolumne@fnwk.de

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