Vorfreude auf die Gegenwart Nach viel Zukunft kommt nun erst mal der Herbst // 7. Oktober 2020 Von Max Christian Graeff „Cool down! Musik auf den Balkonen! So geht Zukunft.“ So lapidar und am Leben vorbei endete ein Artikel des Trendforschers Matthias Horx vom 19. März, in dem er sechs Tage nach dem Lockdown vom imaginierten Oktober aus aufs Frühjahr zurückblickte. Natürlich ging es ausgedehnt um das blitzartig entstehende Zukunfts-Bewusstsein. Unter anderem schrieb er, dass im Sommer der Marktwert von Fake News und Verschwörungszeugs rapide in den Keller gehen würde. Max Christian Graeff - Foto: C. Paravicini Nun ist es immer leicht, nachher klüger zu sein als jene, die sich mutig in eine Vorstellung des kommenden Lebens wagen. Allerdings notierte ich schon am 19. 3. ruppige Lesegedanken an den Rand, vom Wettbewerb der Krisendeuter, der Castingshow der Superpropheten und vom „Wandel zum Guten“ als Discountprodukt. Rückblickend ist beides interessant, der Artikel wie die Notate. Das Papier des Ausdrucks hat sich gelohnt. In der rein digitalen, unkörperlichen Lesewelt wird immer mehr Denkmaterial zum Stream des Moments, ohne Anlass zum Aufheben, Reflektieren und späteren Beurteilen. Ich bin gespannt, was von der diesjährigen, vor allem digital stattfindenden Frankfurter Buchmesse ankommen und übrigbleiben wird. Seit über 500 Jahren sortierte sich in Frankfurt und später in Leipzig die Bücherwelt, und seit dem Mauerbau war es die größte Buchmesse der Welt. Nun ist es ein Philosophenstreit, ob es im virtuellen Raum noch eine Feststellung von Größe geben kann, ohne abertausende Begegnungen, Verhandlungen, Streitereien, Autogramme, Skandale und Kindszeugungen, ohne Millionen spontaner Randnotizen an Ideenblättern, Kalkulationen und Manuskripten. In der reinen Physik fehlt die Chemie, der Muff ungeduschter Kleinverleger und der Schweiß der Hoffnung. Im digitalen Strom kann man (verzeihen Sie den Kitsch) nicht zu den Korallen der Phantasie abtauchen und wird auch der Nachwuchs nicht schwimmen lernen. Umso wichtiger ist es, dass wir trotz aller Ungewissheit alle Möglichkeiten zum leibhaftigen Erleben von Kultur wahrnehmen, die von umsichtigen Veranstaltern wieder möglich gemacht werden. Konzerte, Lesungen, Theater – mit Abstand entsteht die Stimmung schwerer, doch die Empathie braucht keinen lautstarken Jubel. Es zählt, dass Sie den Schreibenden, Musikerinnen und Darstellern einen Grund dafür geben, dass diese sich in das (stets vorhandene) Risiko ihrer öffentlichen Berufsausübung begeben. Noch müssen wir lernen, wie Theater wieder gehen kann, ohne dass die Seuche zum dominierenden Leitfaden jeder Inszenierung werden muss, um die Abstände auf der Bühne zu rechtfertigen. Und wir sollten die Buchhandlungen stürmen, um Denk- statt Klopapier zu horten, falls die Quarantäne dräut. Kennen Sie eigentlich alle in unserer Region arbeitenden Buchverlage, die so viel mehr bieten als Fachwerkbücher und Waffelrezepte? Jede gute Buchhandlung ist eine Buchmesse en miniature! Apropos klein: Der Wahlkampf ist vorbei und manche Erscheinungen unter Freunden in den sozialen Medien haben mich erstaunt. Da hing ein Eifern und Glücksversprechen in der Luft, ein träumendes Turbulieren jenseits der Realitäten, und wer es vorsichtig hinterfragte, wurde schnell zum Verderber jeder glänzenden Zukunft. Da half nur: Stichwahl im Voraus und zwei Wochen Facebook-Abstinenz, bis das Jetzt wieder Einzug hielt. Nun rütteln die Herbstwinde an den Ästen und nur Zugvögel reisen warnungsfrei. Jetzt heißt es, an den Möglichkeiten zu arbeiten, die uns zum Leben bleiben. Schreiben Sie mit, an jeden Rand, der sich bietet – egal, was kommt. 2374 Weitere Informationen WZ KolumneDiese Kolumne in der Westdeutschen Zeitung