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Der Treibstoff der Kultur ist das Unbekannte

Kopfsprung in das Biedermeier? // 5. Januar 2022

Von Max Christian Graeff

Da waren wir also wieder, am Anfang einer neuen Hoffnungsrunde, dass sich alles oder eben nichts ändern wird, und die Leuchtzeichen in der Nacht verkehrten sich ins Gegenteil: „Das wird man wohl noch böllern dürfen“, grunzten nur wenige; ansonsten blieb es reduziert.

Max Christian Graeff - Foto: C. Paravicini
Max Christian Graeff - Foto: C. Paravicini

Den Neujahrsmorgen begann ich deshalb früh mit der aufräumenden Lektüre liegen gebliebener Zeitungsartikel. Ganz unten im Stapel einer vom 4. März 2020; der Pop-Philosoph Slavoj Zizek schrieb kurz vor dem noch nicht denkbaren ersten Stillstand Simples über die fünf Reaktionsstufen auf eine lebensbedrohliche Nachricht: die Verleugnung, die Wut, das Verhandeln, die Depression und die Akzeptanz. Die ersten vier Stadien waren in den wenigen Wochen der sich nähernden Seuche bereits schnell durchlaufen, mit allem Absurden, was manchen bereits quer durch die Birne schoss. Sämtliche Möglichkeiten einer Akzeptanz zwischen hartnäckiger Egozentrik und kollektiver Solidarität waren jedoch noch Zukunftsmusik.

Inzwischen, da die meisten Menschen ihre Wege durch das Akzeptieren gefunden haben, die überwiegend den wachsenden Erkenntnissen der wissenschaftlichen Vernunft folgen, ist klarer erkennbar, in welch hohem Maß derlei Prozesse kulturelle Leistungen sind. Das hohe C ist längst Kulturgeschichte geworden, noch bevor wir in der Lage sind, dies völlig zu begreifen. Dass sich immer noch so viele, in infantiler Verleugnung und Wut stecken geblieben, von eiskalten Menschenfeinden aller Brauntönungen vor deren Karren spannen und durch jede Tagesschau treiben lassen, das gehört leider ebenso zur Kultur – und zu unserer Freiheit. In der Neujahrsnacht ging nebenbei das AKW Brockdorf vom Netz, das in dieser Geschichte auch eine Rolle spielt: Das Verbot der Großdemonstration im Februar 1981 gegen dessen Weiterbau und für die Erhaltung des Demonstrationsrechts wurde später für ungültig erklärt und prägt damit die Rechtslage bis heute.Auch ich ließ mich damals von zehntausend Knüppeln übers frostige Marschland jagen und versuchte, daraus Lehren außerhalb des eigenen Wohlergehens zu formulieren. Unklares und Unverstandenes sind wesentliche Elemente der Kultur und dienen der gemeinsamen Entwicklung, solange sie sich nach vorne bewegen.

Das egozentrisch-paranoide Freiheitsgeheule und präpotente Fackelschwingen jener „spazierenden“ Realitätsleugner zielt jedoch in keinem Aspekt auf etwas, das vor uns liegt, sondern ausschließlich auf ein ominöses Gestern, auf eine faktenfrei zusammenklickbare Vergangenheit, als könne man immer noch unselige Behauptungen wie das Geburtsrecht auf Billigfleisch leben. Die kulturelle Entwicklung kennt – selbst mit der Aufgabe, auch Vergangenes deutend zu bewahren – nur eine sinnvolle Richtung: nach vorne. Der biedermeierliche Sehnsuchtskonsum des letzten Jahres böllerte uns mit utopielosen Referenzen auf Vergangenes zu. Dabei zählen doch vor allem das Ungewisse, das noch Unlösbare, das Wagnis, das Nichtgefallende, die Provokation, das Nichtrechthabenwollende zu den gesellschaftlichen Treibstoffen. Das fiktionale Erzählen und Experimentieren in allen Formen, der Literatur, Musik, bildenden und darstellenden Kunst, sind unentbehrlich für das Verständnis, das uns – im Glück und im Unglück – im Dorf, im Land, in der Welt, in einer weiterhin lebensbedrohenden Zukunft verbindet. Es entsteht vor allem in der freischaffend ausgeübten Kunst und Kultur. Um die Situation derer, die darin tätig sind, ist es erschreckend still geworden. Schließen Sie uns bitte in Ihre guten Vorsätze für die Zukunft ein!

Ihre Meinung wie immer an: kolumne@fnwk.de

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