Jeder Mensch ist ein Pflegender Der Kulturbegriff in der Klemme zwischen Wachteleiern und Wichtelwahn Von Max Christian Graeff Das Jahr ist fast verdampft. Zwar hat der Boden längst noch nicht genug getrunken, doch konnten wir mal wieder jauchzend in die Pfützen springen. Die meisten stürzen sich aber lieber dem Alter und der Kultur gehorchend kopfüber in die Glühweinbecken. Der Rausch hat Konjunktur! Jede Bewegung aufs Fest hin ist bestens geübt; die Keks- und die Koksschwemme sind in aller Munde. Überall steht: „Mit Gelinggarantie!“ Wenn schon die Menschenwürde vor die Hunde geht, sollen wenigstens die Zimtsterne vorbildlich am Gelinghimmel glänzen. Doch zum Glück gibt es viele, bei denen die Kultur selbst während des Gebimmels über den selbstoptimierten Tellerrand hinausreicht. Max Christian Graeff - Foto: C. Paravicini Wobei es mit dem Kulturbegriff noch nie einfach war. Ein Musterbeispiel an Beliebigkeit las ich auf dem Banner der International Federation of Arts Councils and Culture Agencies: „The future we want includes culture.“ Ist das nicht in aller Banalität absurd? Wenn wir eine Zukunft haben, wird diese die Kultur nicht beinhalten, sondern selbst ganz und gar Kultur sein. Und wenn wir keine haben, wird auch dies Kultur sein, eben eine der Auslöschung. Es gibt heute eine verwirrende, fast schmerzhafte Spreizung der Vorstellungen, was Kultur sei. Ein Konsens darüber in unserer Gesellschaft und erst recht zwischen verschiedenen Gesellschaften ist gar nicht mehr möglich. Kultur umschließt – jenseits von Leistung und Produkt –das ständig notwendige Aushandeln unserer Art und Weise, wie wir uns bekämpfen oder pflegen: in der cultura animi, der Pflege des Geistes, oder der cultura agri, der Pflege der uns versorgenden Natur. Wobei wir bezüglich dieses Gebens und Nehmens derzeit wohl auf dem Höhepunkt der Unkultur angelangt sind, trotz oder wegen der Zimtsterne. Ein heutiger Schlüsselbegriff ist die „kulturelle Teilhabe“. Teilhabe bedeutete einst, den anderen (meist behinderte, ausgeschlossene Menschen) in die „normalen“ Lebenssituationen einzubeziehen. Heute wird der Begriff für endlos kreisende Relevanzdiskussionen benutzt, und oftmals fühle ich mich einfach zu naiv, um da mithalten zu können. In meinem bescheidenen Kopf, der mich lieber durch Pfützen springen lässt, ist doch jede Kultur Teilhabe und jede Teilhabe Kultur: Ein Mit- und Füreinander gegen den Narzissmus, egal ob Punk oder Strohstern. Aber ich lerne dazu: Wir brauchen den Teilhabe-Begriff, weil die kulturelle Lage im Lande viel ernster ist als ich es glauben mag. Wir müssen uns mit Gewalt wieder daran erinnern, dass wir alle durch unser Handeln zur Kultur – zur Pflege des Geistes und des Waldes – beitragen und jeder Mensch ein Künstler ist, ob er nun meint, Kunst zu verstehen oder nicht. In der Realität wird das nämlich anders gesehen, was man als Kulturtreibender oft übersieht. Wichteln Sie doch einmal anders: Machen Sie sich täglich mit ein paar Gedanken zur Kultur ein Geschenk, von dem Sie anderen etwas weitergeben. Sehen Sie sich als Teil unserer Kultur, auch wenn Sie meinen, nichts von Kunst zu verstehen. Das verlangt die Kunst auch gar nicht: Sie wird dennoch wirken, und ihre Wahrnehmung genügt als kulturelle Handlung voll und ganz. Haben Sie teil am Gegengewicht zur großen Verrohung der Welt. Zum Beispiel am 14. 12. um 16 Uhr in der Kunststation im Bahnhof Vohwinkel. Das Freie Netz Werk Kultur trifft sich zum Jour Fixe. Wir wollen es wissen: Was wollen Sie von der Kunst? vorheriger Artikel Wem gehört die Stadt? 4614 Weitere Informationen WZ KolumneDiese Kolumne in der Westdeutschen Zeitung