Kreativ für demokratischen Horizont 28. Oktober 2020 Von Uta Atzpodien All die Ausblicke und Perspektiven quer übers Tal: Sie überraschen immer wieder neu, erstaunen, beflügeln, trösten, selbst dann, wenn sie vertraut oder gar alltäglich sind. Dazu leuchten aktuell in allen Farben die Blätter, auf Bäumen, Büschen und Straßen. Selten führt uns die Natur eindringlicher die Buntheit unserer Welt vor. Selbst dann, wenn graue Wolken schwer über allem liegen oder uns nicht enden wollende Regengüsse durch den Tag begleiten. Wenn ich morgens aus meinem kleinen Dachgiebelfenster blicke, atme ich durch und betrachte die faszinierenden immer neu variierenden Himmelsszenarien über den Hügeln, bis zum Horizont. Das gibt mir Mut und Zuversicht, einen frischen Start in den Tag. Uta atzpodien - Foto: Ralf Silberkuhl Das tut not, gerade jetzt. Die Zahlen steigen. Gastronomen, Kinobetreiber, Vertreterinnen kleiner und großer Veranstaltungsorte für Theater, Tanz, Musik, ganz zu schweigen von Künstlerinnen und Veranstaltungstechnikern, alle wissen kaum, wie die nächsten Monate, der Winter zu überstehen sind. Und wann, irgendwann wieder Normalität einkehrt. Originell kommt der gebotene Ernst daher, wenn – wie letzten Freitag – die Rocker der Band „Die Ärzte“ persönlich und live den Tagesthemen-Trailer einspielen und sich zur Existenzangst von Kunst- und Kulturschaffenden äußern. Später klingt das tröstende „Tschüss und bleiben sie zuversichtlich“ von Sprecher Ingo Zamperoni noch nach. Doch: „Ohne Kunst (uns fett gedruckt) und Kultur wird's still“. Lassen wir es soweit kommen? „Kunst ist die Tochter der Freiheit“ wissen wir von Friedrich Schiller. In Chile beflügeln seit eineinhalb Jahren künstlerische Statements die Proteste für soziale Gerechtigkeit. Jetzt haben sie Geschichte geschrieben und mit einem Referendum für eine neue Verfassung abgestimmt. Die Zeit ist reif. Nun gilt es, die neoliberale Verfassung, die noch aus den Zeiten der Militärdiktatur Pinochets stammt, zu ersetzen. Kunst vermag Selbstwirksamkeit in die Gesellschaft zu tragen. Ja, seien wir selbstwirksam, auch und besonders in Zeiten von Corona. Und genau sie ist gefragt, eine verantwortungsvolle Selbstwirksamkeit, um gemeinsam einen neuen Horizont für die Gesellschaft entstehen zu lassen. Was braucht es? Es ist ähnlich wie mit den bunten Herbstblättern: In der Wahrnehmung wurzelt Achtsamkeit. Auf sich und auf die anderen zu achten, aktuell akut wie selten zuvor, im Maß und entsprechend den Abstandsregelungen unterwegs zu sein, in Gastronomie, Kunst und Kultur, auch im Einzelhandel. Es geht hier um alltägliche Aushandlungsprozesse, um Kommunikation, Transparenz im eigenen Handeln, genaues Hinschauen und über den eigenen Tellerrand Blicken. Wahrnehmung kann uns allen gar helfen, der Corona-Burnout-Welle vorzubeugen, die dieser Tage ein renommierter Psychotherapeut und Klinikleiter vorhersagt. Kreativ für einen demokratischen Horizont: Die freie Kunst- und Kulturszene findet selbstwirksam weiter zueinander, wendet sich an die politischen Fraktionen und fordert Sitze, Repräsentanz und Mitsprache im sich neu konstituierenden Kulturausschuss und der Komission Pina Bausch Zentrum ein. Sinnliche Erfahrungen unterstützen uns, ob in der Natur, über die Kunst, daheim, mit Buch, Gemälde, Film, Musik oder vor Ort am kommenden Wochenende: die WOGA lädt zu Atelierbesuchen ein, das „Jazzmeeting“ zu prägnanten Musikerfahrungen und die Reihe „Literatur auf der Insel“ im Café ADA zur Lesung mit Peter Schneider, einem Autoren, der schon lange den gesellschaftlichen Horizont im Visier hat. In der beginnenden dunklen Jahreszeit ist mir Else Lasker-Schüler eine treue Begleiterin: „An den dunklen Wassern der Wupper erkennst Du die Menschen, die wahrhaft leuchten.“ vorheriger Artikel Das große „Trotzdem“ – Kultivieren wir unseren Kontakt 3640