Verdunkelungen im Frühling Zur Kunst gehört auch, keine Antwort zu haben // 16. März 2022 Von Max Christian Graeff „Über Kunst werde ich nach dem Krieg wieder sprechen, das ist jetzt nicht wichtig.“ So schloss der in Charkiw lebende Konzeptkünstler Pavlo Makov letzte Woche ein Interview. Geplant war, seine Installation „Der Brunnen der Erschöpfung“ als Länderbeitrag der Ukraine bei der 59. Biennale di Venezia Arte 2022 zu zeigen, die am 23. April eröffnet wird. Max Christian Graeff - Foto: C. Paravicini Ob es noch gelingt, das Werk dorthin zu bringen, steht in den Sternen. Sicher ist, dass der russische Pavillon in den Giardini geschlossen bleiben wird; der Kurator und die Künstler zogen ihre Teilnahme, entsetzt über die Ereignisse, selbst zurück. Der Obertitel des Großereignisses, „Die Milch der Träume“, weckt manch freie Assoziationen, nicht zuletzt mit der „Todesfuge“ von Paul Celan: „Schwarze Milch der Frühe wir trinken sie abends / wir trinken sie mittags und morgens wir trinken sie nachts …“ Verse über den Holocaust sind hier kaum gerechtfertigt, doch war der Begriff des Genozids kürzlich Argument mehrerer Seiten. In einer Flut der Kurznachrichten, Memes und Titelschlägereien tobt zugleich ein Krieg der Wörter; Nachrichten werden schnell zu Schwertern, die uns jagen und kaum Luft zum Verstehen lassen. Die Erschöpfung der Welt hat wohl die meisten Menschen täglich fest im Griff, und wer dabei immer noch über Benzinpreise und Maskenpflichten jammert, hat schon lebenslang den Schuss nicht gehört und hängt auf ewig im supiduften Wiwawunderland des eigenen Wohlergehens fest. Doch vor dessen Toren engagieren sich zahllose Menschen rastlos mit Spenden, Taten und Zuwendung für andere. Täglich frage ich mich mit meist schlechtem Gewissen – und nicht erst seit diesem Entsetzen, sondern seit Berufsbeginn vor vielen Kriegen –, was ich als mittelloser Letternschubser und Kleinkunstleistender dazu beitragen kann. Manchmal gab es Handfestes zu tun, doch an vielen Tagen bleibt nur die weitere Suche nach Antwort auf die Frage „Warum?“. Diese stellte ich schon der Mutter, wenn sie von Verdunkelungen, Bunkern und Bomben ihrer Kindheit erzählte, deren Geräusche und Lichter sie nicht mehr loswurde. Ihre Wege aus dem Alptraum waren die Nennung der Verursachungen, eine bedingungslose Erziehung zum Frieden und ein ausdauerndes Verhandeln humaner Kulturgeschichte. In ihrem Fall nicht in Foyers, an Buffets und in Auditorien, sondern im täglichen Gespräch. Noch leben einige, die schon seit Jugoslawien und dem ersten Desert Storm nicht mehr ruhig schlafen können. Auch ihnen gehört zugehört; auch das ratlose Erinnern und jede fehlende Antwort ist Kultur. An ihr, an diesem Brunnen der Erschöpfung, zerbrechen alle Kurznachrichten und Rechthabereien des Augenblicks. An Friedensbekenntnissen herrscht im zivilen Leben kein Mangel; auch die freien Künstlerinnen und die Kulturbetriebe erfüllen diese Pflicht. Ob daraus auf hiesigen Bühnen, in den diversen Kriegsgebieten oder auch in jedem Schlauchboot oder Flüchtlingszelt noch eine „Arbeit am Warum“ lebendig gehalten werden kann, wissen wir nicht. Die legendäre Weltuntergangsuhr „Doomsday Clock“ des „Bulletin of the atomic scientists“ stand im Januar, schon vor dem Grauen der letzten Wochen, auf 100 Sekunden vor Schluss. Die „Earth Hour“ am 26. März mit ihrer erbetenen Verdunkelung für eine Stunde ab 20.30 Uhr könnte – für den Klimaschutz wie für so vieles mehr – ein Zeichen unserer Sorge sein. Wie wäre es, in dieser Stunde im solidarischen Dunkel etwas Zeit zu gewinnen und einfach jemandem zuzuhören, aus der Ukraine, aus Syrien, Afghanistan oder einem anderen Feuer, aus der Familie? Anregungen und Kritik kolumne@fnwk.de 1724