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Durch ihre Augen

6. September 2023

Von Torsten Krug

Kürzlich hatte ich einen Gedanken, der mich bis heute nicht loslässt: Ich saß in einer Aufführung von „Zugvögel“ von Rainer Behr auf der Insel; der belarussische Tänzer Stsiapan Hurski war zum Zentrum und Ausgangspunkt eines Stückes geworden, das sich mit Fragen nach dem Menschlichen, nach der Liebe in Zeiten diktatorischer Gewalt und Unterdrückung sowie des Aufstandes gegen sie auseinandersetzte. Die Bilder und Töne, Körper und Texte waren so intensiv, dass mir klar wurde: Hier hat ein junger Mensch etwas erleben müssen, das mir (bis heute) erspart geblieben ist, und das seinen Weg in die Kunst finden durfte. „Wir“, das Land, das ihn aufgenommen hat und in dem er nun seine Kunst zeigen kann, profitieren in gewisser Hinsicht von dieser Kraft und Authentizität. Vieles, was Künstlerinnen und Künstler beispielsweise aus der Ukraine mitbringen, wirkt – bei allem Leid und aller Schwere des Erlebten – wie eine Belebung und Bereicherung auf das Theater, die Literatur, den Tanz, die Musik. Als ich mich bei jenem Gedanken ertappte, dachte ich auch sogleich: Es ist gut so. Es macht mich wach. Ich teile etwas Wichtiges und allgemein Gültiges mit anderen Menschen, und das ist kostbar.

Torsten Krug - Foto: Andreas Fischer
Torsten Krug - Foto: Andreas Fischer

Das führt natürlich zu einer generellen und nicht einfachen Frage in Bezug auf das Kunstschaffen: Muss ich erlebt haben, über was ich schreibe? Muss ich Folter am eigenen Leib erfahren haben, um sie darstellen zu können? Habe ich es als Künstler, wie mein Freund Hermann Schulz einmal halb ironisch anmerkte, ohne eine schwere Kindheit schwer? (Er selbst hatte eine solche, voller Verletzungen und Verwerfungen, aber auch Aufbrüchen, und sein Werk zehrt bis heute davon). Nun ist es natürlich relativ, was so eine schwere Kindheit sei. Manchmal liegen seelische Verwerfungen nicht offen zu Tage, um von ihnen erzählen zu können. Manchmal werden Menschen zu Künstlerinnen, weil sie ein Leben lang verstehen wollen, wie sie wurden, der sie sind.

Szenenwechsel: „Angel´s Bone“ am vergangenen Wochenende in der Alten Glaserei. Mr. und Mrs. X.E. nehmen gefallene Engel bei sich auf, saugen ihre spirituelle Energie aus ihnen und inszenieren sich selbst als Gutmenschen. Ihr Leben, das zuvor aus Konversation mit dem Fernsehgerät besteht, bekommt plötzlich einen Sinn, sie wachsen an dem magischen Potenzial der von ihnen Erniedrigten und Vergewaltigten. Die chinesischstämmige Komponistin Du Yun und die Wuppertaler Theaterarbeit schaffen starke Bilder der Unterdrückung (auch von Tieren und ihrer Magie, musste ich denken) und wollen damit ein Zeichen gegen Menschenhandel setzen. Dieser findet auch in Deutschland tagtäglich statt: Viele Menschen arbeiten unter kritischen Bedingungen, sei es in der Pflege, im Haushalt, in der Sexarbeit, Landwirtschaft, Fleischindustrie oder auf dem Bau.

In der Performance „Through Their Eyes“ am morgigen Donnerstag auf der Insel wird Narjara Ribeiro-Ufer eine Aufstellung mit den Protagonistinnen von „Angel´s Bone“ konstruieren und damit Einblicke in die komplexe Struktur von Täter-Opfer-Beziehungen geben. Darauf bin ich, besonders nach dem Erlebnis dieses bewegenden Musiktheaterabends, sehr gespannt.

Beide Inszenierungen klingen noch nach. Wäre es zu weit gedacht, den „Menschenhandel“ auch im Bereich der Kultur selbst zu verorten? Leben wir auch in der Kunst von dem erlebten Leid anderer? Womöglich, um es zu verstehen und uns selbst dadurch oder davon zu reinigen? – Es wäre die Definition der antiken Tragödie und damit der Beginn des Theaters.

Anregungen an: kolumne@fnwk.de

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