Erinnern an die Zukunft Von Torsten Krug Letztes Jahr fand ich im Archiv des Wuppertaler Schriftstellers Karl Otto Mühl ein kleines vergilbtes Faltblatt – die Ankündigung für einen Leseabend der Künstlervereinigung „Der Turm“ mitten im zerstörten Wuppertal. Ein Foto davon habe ich seither auf meinem Handy gespeichert. In dieser Ankündigung schreibt der Schriftsteller Paul Pörtner: „Bestimmte Züge haben (...) die Künstler aller Zeiten gemeinsam. Dem Künstler sind die Erscheinungen der Zeit – Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft – in einem einzigen Augenblick stärker bewußt als den meisten Menschen. Er überblickt gleichsam die Landschaft des Lebens.“ Torsten Krug - Foto: Andreas Fischer Seit Menschengedenken eröffnet künstlerisches Schaffen Zukunftsräume, gelten Künstlerinnen und Künstler als Visionäre, gar Propheten – und als solche im eigenen Land oft sprichwörtlich nichts. Eine der Urfragen, die Kunst stellt, lautet: Was wäre, wenn? Systemen, die auf ihren Erhalt bedacht sind, – seien es Diktaturen oder Ideologien aller Art – ist sie deshalb suspekt bis gefährlich. Kunst vermag infrage zu stellen, was bis dato unverrückbar erschien, erfindet die Welt jederzeit neu. Artists for future, eine Solidaritätsbewegung mit den erstaunlichen Protesten der Schülerinnen und Schüler von Fridays for future, berührt in seinem Namen mithin das Selbstverständnis künstlerischen Schaffens. „Erinnern an die Zukunft“ lautet der wunderbare Titel eines Zukunftsfestivals, das die Armin T. Wegener-Gesellschaft und die Stiftung W. in Erinnerung an drei Visionäre – die Künstlerin Else Lasker-Schüler, die Philosophin und Sozialreformerin Dr. Helene Stöcker und den Philosophen, Autor und Aktivisten Gustav Landauer – im Mai veranstalten werden (www.erinnern-an-die-zukunft.de). Kunst und Kultur erinnern den Menschen an seine eigene Zukunft, daran, was möglich und manchmal notwendig ist. Angesichts der erdrückenden Probleme unserer (im digitalen Raum mehr und mehr zusammenrückenden) Welt kann uns die Hellsichtigkeit von Kunstschaffenden, selbst derer früherer Jahrhunderte, helfen und Mut machen. In einem Gedicht, das ich in einer Vertonung von Hanns Eisler in zwei Konzerten im Rahmen jenes Zukunftsfestivals singen darf, hat Bertolt Brecht im Exil die Dialektik von Kunst und zukunftsträchtigem Handeln auf den Punkt gebracht: „Heute, Ostersonntag früh ging ein plötzlicher Schneesturm über die Insel. Zwischen den grünenden Hecken lag Schnee. Mein junger Sohn holte mich zu einem Aprikosenbäumchen an der Hausmauer von einem Vers weg, in dem ich auf diejenigen mit dem Finger deutete, die einen Krieg vorbereiteten, der den Kontinent, diese Insel, mein Volk, meine Familie und mich vertilgen mag. Schweigend legten wir einen Sack über den frierenden Baum.“ Die Kunst des Schreibens legt hier den Finger in die Wunde. Das Handeln ist ein trotziger Akt der Hoffnung, ein Beharren auf (Mit-)Menschlichkeit in finsteren Zeiten. Lesen wir noch einmal Paul Pörtner, unter dem unmittelbaren Eindruck einer zerstörten Welt: „Der Künstler muß glauben können, daß seine Lebens- und Weltschau bedeutsam und echt ist – sonst würde er wohl nie den Mut zur Gestaltung haben. Doch nur in dem Maße, wie sein Glaube von anderen geteilt wird, findet er Widerhall.“ Hoffen wir also, dass die Künstlerinnen und Künstler unserer wie auch vergangener Zeit weiter Widerhall finden, womöglich Hand in Hand mit protestierenden Heranwachsenden, für die es buchstäblich und existenziell um ihre Zukunft geht. 3168 Weitere Informationen WZ KolumneDiese Kolumne in der Westdeutschen Zeitung