Geduld ist das romantische Element in dieser postnormalen Zeit 28. Dezember 2022 Von Aenne Lowisch Meine Mutter Tine Lowisch hat sich dieses Jahr zu Weihnachten gewünscht, dass ich heute einmal die Kulturkolumne für sie übernehme, also schenke ich ihr gerne ein paar meiner Gedanken. Zum Beispiel darüber, wie es ist, von den Eltern wegzuziehen. Dies ist für manche ein großer und für andere ein kleinerer Schritt. Für mich war es irgendwas dazwischen. Für die Zeit zwischen den Jahren ist es üblich, zur Familie zu fahren. Das habe ich auch gemacht und bin das erste Mal wegen Weihnachten zurück nach Wuppertal gekommen. Bei den Freund*innen, mit denen ich im Vorfeld über die nun überstandenen Festtage gesprochen habe, dominierten eher die negativen Gefühle. Aenne Lowisch - Gemalt von Andreas M. Wiese Der Wunsch kam auf, den Druck rauszunehmen, denn es ist für viele von uns schwer, ein Fest zu feiern, an das kaum noch geglaubt wird. Einige fühlen sich im Moment einsam, streiten mit ihrer Familie, entfliehen, kommen stattdessen lieber in selbst gewählten Konstellationen zusammen. Über die Kultur des Schenkens wurde in meinem Umfeld auch viel gesprochen. Klar ist: nur die, die eine wirklich gute Idee für jemanden haben, wollen etwas verschenken. Pflichtgeschenke machen für uns einfach keinen Sinn mehr. Wenn Geschenke nicht von Herzen kommen, werden sie lieblos. Ich denke, dass es das verpflichtende Schenken zu Weihnachten irgendwann überhaupt nicht mehr geben sollte. Meine Eltern und ich machen da schon seit Jahren nicht mehr mit. Ich freue mich immer sehr, meine Eltern zu besuchen, meine Kernfamilie. Darüberhinaus gibt es da aber noch weitere Menschen, die ich zu meiner Familie wähle, weil ich sie einfach auch sehr liebe. Ich wünsche mir schon lange, beide Familienkonstrukte miteinander zu verbinden. Mit diesem Wunsch bin ich nicht alleine. Viele, die ich kenne, können gut nachvollziehen, dass ich mir für Weihnachten eine lange Tafel vorstelle, an der alle sitzen, die ich mag. Sehr utopisch... „Geduld ist das romantische Element in dieser postnormalen Zeit.", hat meine Mutter mir letzte Woche am Telefon gesagt. Diesen Satz habe ich sofort in mein Notizbuch geschrieben. Zwischen Weihnachten und Silvester, in einem Jahr voller individuellem und kollektivem Stress und immer sichtbarer werdenden Revolutionen, freut es mich, die Stimme meiner Mutter so etwas sagen zu hören. Oft habe ich keine Geduld mehr. Ich bin frustriert von so viel Ungerechtigkeit in der Welt und auch davon, zwischendurch so kraftlos zu sein, obwohl doch noch so vieles erkämpft werden muss. Meine Freund*innen und ich tauschen uns natürlich nicht nur über das Thema Weihnachten aus, sondern zum Beispiel auch über unseren ständigen Konflikt mit anderen Generationen. Wir sind jung und wollen nicht länger überhört werden. Wir wollen uns keine rassistischen, sexistischen und anders diskriminierenden Sprüche mehr anhören. Wir möchten nicht dafür kritisiert werden, dass wir etwas gegen diese vermeintlichen Witze sagen. Jede*r macht in der Kommunikation Fehler, ich auch, doch Scham und eine toxische Abwehrhaltung sind immer kontraproduktiv für ein Gespräch auf Augenhöhe, das wir ja suchen. In manchen Fällen fehlen dann einfach der Wille und die Energie, konstruktiv zu streiten. Manchmal traue ich mich deswegen auch nicht, offen zu problematisieren. Vielleicht finden wir im neuen Jahr diese romantische Geduld, von der meine Mutter spricht. Vielleicht ist es das, was eine Gesprächskultur braucht um inhaltlich weiterzukommen. Anregungen und Kritik: kolumne@fnwk.de vorheriger Artikel Nichts hat keinen Grund 2109