Was fehlt, wenn Kultur uns nicht verbinden darf 15. Dezember 2021 Von Torsten Krug Bevor ich diese Kolumne schrieb, habe ich nachgesehen: es ist schon die vierte in einem Dezember! Seit Januar 2018 gibt die Westdeutsche Zeitung Mitgliedern von „)) freies netz werk )) KULTUR“ wöchentlich diese Bühne. Freiraum für persönliche Gedanken einzelner Kulturschaffender, für Beobachtungen, die sonst unter dem Radar der Berichterstattung blieben. Torsten Krug - Foto: Andreas Fischer Wenn ich die Kolumnen und ihre Themen vergleiche, sehe ich – ganz klar – einen Bruch: Es gibt die Zeit vor März 2020 und die danach. Mein letzter Text aus der „alten Zeit“ beschrieb einen Eindruck von der Feierlichkeit zur Eröffnung des Engelsjahres: Im Foyer des Opernhauses drängelten sich dicht aneinander (!) Kulturschaffende Wuppertals, um von einem Fotografen der WZ auf ein Foto gebannt zu werden. Damals inspirierte mich dieser Vorgang zu einem Gedankengang, was uns als Kulturmenschen eint und was unsere Vielfalt ausmacht. (Ich verweise auf das Archiv sämtlicher Kolumnen unter www.fnwk.de/kolumne). Heute scheint mir diese Erinnerung wie ein Blick in eine unwirklich ferne Welt. Es mag am düster verhangenen Himmel liegen oder an den anhaltend schlechten Nachrichten (I know, „only bad news are good news“): Im Moment erlebe ich uns als Monaden, als Einzelne, die verwirrt auf ihr verlorenes Glück oder – alternativ – auf die neue Corona-Schutzverordnung starren. Derweil ist in der Politik ein gewisser Aufbruch zu spüren, schafft die Pandemie Raum für die Beschleunigung notwendiger Entwicklungen. Die vielfach attestierte „Spaltung“ unserer Gesellschaft hat wohl auch damit zu tun, dass einige nicht mehr mitkommen und sich nach einfachen Antworten sehnen. Doch die Widersprüchlichkeit, die Ambivalenz und damit Komplexität ist aus unserer Welt nicht mehr wegzudenken. Zu Recht verwies Tine Lowisch hier auf die Aktualität Friedrich Engels’ und seiner „Arbeit am Widerspruch“ (so ein Buchtitel). Seit einigen Jahren darf ich zusammen mit der Schauspielerin Silvia Munzón López eine inklusive Theatergruppe leiten. Wir haben nicht viel Budget für Ausstattung und Gedöns. Im Wesentlichen entwickeln wir mit unseren Spielern deren eigene Geschichten und gestalten sie mit den Mitteln des Theaters. Bei den ersten Treffen nach coronabedingter Zwangspause waren wir erschüttert, wie verstört viele von ihnen wirkten. Teilweise dauerte es Stunden, bis sie, die wir als sprudelnde Menschen kannten, wieder sprachen. Bis heute haben wir den Eindruck, dass jede Probe mit einer großen Fahrigkeit beginnt, um am Ende – ein Glück – in wache, offene Gesichter zu blicken und festzustellen: Schon wieder ist eine Begegnung vorbei. Alles, was wir jede Woche mit ihnen erleben, kann ich an mir selbst beobachten. Es ist ein großer Schatz, mit ihnen und mithilfe des Theaters unsere Spiegelneuronen zu trainieren oder beispielsweise über einen Spieler mit Autismus zu staunen. Kürzlich erst, nach Jahren, durften wir dessen Begabung zum Zeichnen entdecken. Auf einer Flipchart zog er freihändig einen perfekten Kreis und entwickelte daraus eine menschliche Figur. In der letzten Probe durchblätterte er eine Zeitschrift wie ein Daumenkino, schlug eine Doppelseite mit Blumenwiese und Schwein auf – und roch daran. YWenn alles gut geht, werden wir mit unserem Stück im September nächsten Jahres Premiere feiern. Mit dem Arbeitstitel von einem der Teilnehmenden möchte ich dieses Jahr beschließen: „Die Hoffnung bleibt in trockenen Tüchern.“ Anregungen und Kritik: kolumne@fnwk.de 1951 Weitere Informationen WZ KolumneDiese Kolumne in der Westdeutschen Zeitung