Nur Dichtung trifft auch still ins Ziel Von Max Christian Graeff Endlich – die Blätter fallen! Selten konnte uns ein endloser Spätsommer so beunruhigen wie dieses Mal, doch nun scheint alles in Ordnung zu sein, fast wie früher: Der Wind treibt kühl und ruppig um die Häuser, und wenn beim Abendbrot des „Great Pumpkins“ Stunde schlägt, werden die uralten Fragen gestellt: Wer waren eigentlich diese „Peanuts“? Wer hat am Reformationstag warum frei? Weshalb bekam Charlie Brown immer nur Steine, was haben Martin Luther und Hilmar Kopper wirklich gesagt und welche Rolle spielt dabei bloß dieser „Rote Baron“? Die ratlosen Blicke der Eltern kündigen ein Ereignis an: Aufhebung des Esstisch-Handyverbots! Eilig rutschen fettige Finger über die Displays, bis der Router qualmt, sich ein Haufen Halbsätze über den Aufschnitt türmt und Mutter unter allgemeinem Augenverdrehen sagt: „Das werde ich später in Ruhe nachlesen!“ Max Christian Graeff - Foto: C. Paravicini Es ist auch die Zeit, in der die Ghostwriter aller Politiker damit beginnen, die großen Winterreden zu skizzieren, in denen sie zur Besinnung mahnen und am Schluss verlegen verraten, dass auch auf ihrem Nachttisch ein ganzer Stapel an- oder ungelesener Bücher läge, den sie in den stillen Tagen abarbeiten wollen. Lesen helfe beim Entspannen, ob Krimi, ein bisschen Romantik oder sogar Lokalhistorie des Wahlkreises. Politiker lieben das Lesen, sobald sie etwas näher zu ihren Kunden rutschen wollen. Dass die Literatur gesamthaft notwendig sei, um nicht lebenslang an den Oberflächen herumzupaddeln, sagen sie nicht. Dass sie als dürftig bezahlte Kunst hinter allen Gewerken des Kulturschaffens steckt, scheint nicht mehr erwähnenswert zu sein. Dass sie jenseits des „Schönen“ unser Kitt in den Fenstern zur gesamtgesellschaftlichen Gegenwart ist, dass sie noch den Ärmsten bereichern, den Fremdesten vertraut machen und den Schwächsten bekräftigen kann, das habe ich von ihnen ewig lange nicht mehr gehört. Schon gar nicht, dass du bist, was du liest – ob Vegi oder Wurst, Novellen oder Lyrik… Die Schriftsteller haben das politische Parkett wohl verlassen. Als kürzlich der Konjunkturmotor der atomaren Neuaufrüstung ins Spiel kam, weil die Normalwaffenexporte nicht mehr ausreichen, holte ich die Bücher hervor, die ich 1981 zur ersten großen Friedensdemo in Bonn inhalierte. Heinrich Böll und Robert Jungk sprachen zu uns und mein Lyriklehrer Otmar Leist las kurze, eindringliche Gedichte vor 300 000 Zuhörern! Die Zeilen klingen nach und wieder neu; es war mir nicht mehr bewusst, wie sehr sie mein Leben veränderten. Sie arbeiteten all die Jahre im Hintergrund weiter, wurden zum stillen Teil meiner selbst. Für andere mögen immer noch Luthers 95 Tweets nachwirken, die er einst an die Kirchentür beamte. Oder der Große Kürbis, der Linus alljährlich erschien, lange bevor Aldi wusste, wie man Halloween schreibt. Oder die Texte von Feine Sahne Fischfilet. Literatur ist weder Kuscheltier noch Ferienvergnügen, sie ist Verständnis von und Verabredung mit der Welt. Der Dichtung Schlagkraft ist die Entwaffnung. Entwaffnet Euch! vorheriger Artikel Geschichten weben Stadt und Zukunft 4560 Weitere Informationen WZ KolumneDiese Kolumne in der Westdeutschen Zeitung