Leben von der Kunst als Weg 26. Juli 2023 Wer sich Ziele setzt, kennt das. Immer wieder ändert sich etwas, und der Königsweg nimmt eine überraschende Wendung. Oft muss man, erst einmal alleine, schnell sein. Mal will man auch abwarten oder sogar ein Stück zurückgehen, um gemeinsam weiterzukommen. Trauer über vermeintlich vergeudete Zeit kommt da nicht auf, obwohl sie den eigenen Lebensweg als Bildungswerk Vieler ebnet. Tine Lowisch – Foto: Claudia Scheer van Erp Diese Erfahrung ist tatsächlich universell. Und ob man den für sich abgesteckten Pfad im passenden Moment besser wieder verlässt, ist eine individuelle Entscheidung. Aufgeben, Dranbleiben, Umdenken? Egal, denn immer wieder ändert sich etwas. Zu den menschlichen Denkfallen gehört, dass die sogenannten Schönen Künste als etwas Hohes, als etwas über jeden Zweifel Erhabenes – Kunst als Gegenmodell zu allem Profanen – reservierte Plätze braucht. Das habe ich auch geglaubt. Nun, nach einer Pandemie, denke ich, dass ein vormals wie in Stein gemeißelter Grundsatz der westlichen Moderne in Bezug auf die Kunst einfach nicht mehr gilt: Der Sehsinn kann jetzt nicht mehr wichtiger sein als der Tastsinn. Dafür sind die neuen, digitalen Wirklichkeiten in der Kunst in den letzten paar Jahren durch technischen Fortschritt einfach zu bildgewaltig geworden und zirkulieren viel zu schnell, ohne jemals wieder zu verschwinden. Vielleicht trägt dieser überholte Grundsatz, dass das Auge, als übergeordnetes menschliches Sinnesorgan, immer gehandelt als Stellvertreter für den menschlichen Geist, vor dem taktilen, menschlichen Gefühl rangiert, sogar im Moment, wie ein Brennglas dazu bei, dass Überforderungen einfach extrahiert werden. Erst einmal ausgelagert werden und dann in eine Art Schattenhaushalt oder Sondervermögen der menschlichen Gesamtverantwortung übergehen. Ist die Postnormale Moderne, ausgestattet mit ihren rosa VR-Brillen, Tablets und Smartphones von Bayreuth bis nach Barmen also immersiv auf der Suche nach dem Endlager für ihre Verfehlungen? Klassisch-moderne Grundsätze sind nicht nur aus meiner Sicht die Ursache der multiplen Krisen, die uns beschäftigen. Jetzt in Verhaltensmustern immer zukunftstrunkener stecken zu bleiben, trägt nicht zur Lösung bei. Ein neues Gesellschaftsmodell muss her, eines, das die Spannungen zwischen den Polen neutralisiert. Jede Entscheidung und jedes Verhalten hat Auswirkungen auf nachfolgende Generationen und geht über ein Menschenleben hinaus. Kunstprodukte, deren Maxime die bedingungslose Perfektion und überbordende Verschwendung ist, werden ihren Reiz schon bald verlieren. Die nächste Generation der Kunstwelt, die wie alle zurzeit lebenden Menschen auch zur letzten Generation gehört, zu der letzten Generation, die ihr Verhalten noch einmal ändern kann, ist vereinzelt unterwegs. Künstlerinnen und Künstler, die sich heute lieber Gestalter und Gestalterinnen nennen, halten in den sozialen Medien den etablierten Kunstvorstellungen, die sich immer mehr mit Luxus-Konsumgütern vermählen den Barbie- oder Hello-Kitty-Spiegel vor: wie einen sehr ernst gemeinten Scherz. Über die Daten-Kanäle kommen die Werte, die die Geldmaschine Luxus schafft, zumindest als Bilder in den virtuellen Wirklichkeitserfahrungen der Menschen, wenn auch gefiltert, an. Gepaart mit unerfüllten Sehnsüchten führt mich das in letzter Zeit vorrangig in den eigenen Schrebergarten. Der liegt am Europa-Wanderweg. Ich ernte dort im Moment erfrischend natürliche saure Gurken und realisiere täglich: Jetzt haben wir den Salat. Ihre Rückmeldung wie immer an: kolumne@fnwk.de vorheriger Artikel Auch die Sprache steht im Rückreisestau 1603