Raus aus der Erstarrung 21. Oktober 2025 Von Torsten Krug Vergangene Woche war ich seit gut 30 Jahren das erste Mal wieder auf der Frankfurter Buchmesse. Mein lange zurückliegender Besuch hatte mich damals enttäuscht, wenn nicht verstört zurückgelassen. Als Student im altehrwürdigen Tübingen hatte mich wohl die Erkenntnis überrannt, dass Literatur – zumindest im Rahmen solcher Ereignisse – auch ein „Business“ sein kann und will. Fremdelnd und einsam hatte ich mich auf den Heimweg gemacht, in die kopfsteingepflasterten Gassen von Hölderlin & Co. Torsten Krug - Foto: Andreas Fischer Ganz anders mein Eindruck diesmal: An einem der sogenannten Fachbesuchertage schlenderte ich entspannt durch die angenehm gefüllten Reihen und freute mich an der Fülle von Ideen und Perspektiven gerade kleiner, unabhängiger Verlage. Rainald Goetz stand plötzlich neben mir, fotografierte eifrig und meinte, er gehe jetzt zum Stand der „Zeit“ und verfolge dort ein Gespräch nach dem anderen – das sei doch toll! Hanns-Josef Ortheil trank einen Kaffee und schwärmte später von Wuppertal. Richard David Precht lehnte im Sessel und schwurbelte ein wenig, leider vollkommen unkritisch in Watte gepackt von einer Kollegin des Hessischen Rundfunks. Das Tolle: Alle wirkten irgendwie greifbar, Gespräche schwirrten im Raum – die größte Literatur-Messe der Welt strahlte etwas Heimeliges aus und verband scheinbar mühelos bunt verkleidete Romantasy-Fans mit den Debatten der Feuilletons. In ihrem Roman „Und Federn überall« erzählt die deutsch-iranische Bachmannpreisträgerin Nava Ebrahimi von einem einzigen Tag in einem fiktiven Ort der Provinz. Zentrum der Erzählung ist ein Geflügelbetrieb. Nicht das Tierrechts-Thema habe sie interessiert, äußert sie im Gespräch, sondern das Phänomen der Verdrängung: Wir alle wüssten doch um die brutalen Vorgänge in der Tierindustrie, doch könnten sie mühelos ausblenden. Als jemand, der seit dreizehn Jahren pflanzlich lebt, entlockte mir diese Einsicht nur das Heben einer Augenbraue. Hängengeblieben ist mir das Bild, das Ebrahimi offenbar schon vor Jahren zu ihrem Thema inspirierte: „Wooden Breast“-Syndrom – hölzerne Brust – heißt eine weitverbreitete Krankheit unter Masthühnern, deren Brust, als der profitabelste Teil von ihnen, möglichst schnell wachsen soll. Dieser Begriff habe den Startpunkt für alles gegeben, das Bild einer sich verhärtenden Brust (das Märchen vom »Eisernen Heinrich« lässt grüßen), das sie körperlich habe spüren können. Es wirke auf sie wie ein Sinnbild für unsere heutige Gesellschaft. Diese und viele andere Anregungen nehme ich mit und frage mich, ob und wie wir aus einer solchen Erstarrung herauskommen. Sicher gehört dazu auch Trauerarbeit. Und eine neue Lust auf Utopien. Die vermeintlich Mächtigen bewegen sich scheinbar unbeeindruckt vom Grauen, das sie oft selber sind. Vermeintlich Ohnmächtige rühren sich, ob in den Straßen der USA oder im „Stadtbild“. Eine andere Welt ist möglich – der Ruf aller Kunst von Beginn an. Das Broetz-Festival für freie Musik, das in diesem Oktober Menschen aus ganz Europa nach Wuppertal führte, ist für mich noch nicht verklungen. Erst kurz vor den Konzerten erfuhren die Musikerinnen und Musiker, mit wem sie an diesem Abend auf die Bühne gehen und musizieren würden. Es wurden aufregende Begegnungen voller Schöpfungen aus dem Augenblick. Wir alle hatten teil daran. Es war wie ein Sinnbild für größtmögliche Offenheit und Selbstwirksamkeit, für die Möglichkeit einer neuen Welt. Jeder Ton, jeder Klang schien zu sagen: „Komm! Ins Offene, Freund!“. Womit wir wieder bei Hölderlin wären. Anregungen an ➜ kolumne@fnwk.de 240