Kunst feiert die Vielfalt Von Torsten Krug Seit zwei Jahren arbeite ich mit einer Gruppe beeinträchtigter Schauspielerinnen und Schauspieler. Ich habe schon viel von ihnen gelernt. Keiner von ihnen ist in der Lage, einen Text auswendig zu lernen oder ihn exakt wiederzugeben. Dafür improvisieren sie viel zu gut. Unsere Stücke, die wir in der Färberei aufführen, folgen einer Vision, Absprachen, einem dramaturgischen Bogen – und sind doch in jedem Augenblick improvisiert. Als sei es das erste oder das letzte Mal. Ganz wie im Leben. Torsten Krug - Foto: Andreas Fischer Einige von diesen Spielern können kaum oder nicht sprechen, zumindest nicht so, wie wir uns das vorstellen. Manche können sich nur eingeschränkt bewegen. Oder eben: sie können ganz besondere Bewegungen! Allesamt sind es Menschen, die auf die Bühne wollen und genau dorthin gehören. Ich könnte ihnen unentwegt zuschauen und zuhören. Ihre künstlerische Fantasie spricht Bände, in ganz eigenen Sprachen. Und: sie zelebrieren den Augenblick! Einmal nach einer Probe sagt die Schauspielerin Silvia Munzón Lopéz, die schon in zwei Inszenierungen mitwirkte, zu mir: „Danke. Jetzt weiß ich wieder, um was es eigentlich geht.“ Letzten Samstag las ich beim Finale der sympathischen »Ronsdorfer Literaturtage« aus meinem noch in Arbeit befindlichen Roman, unter anderem ein Kapitel, in dem es um einen autistischen Jungen geht. In der Pause habe ich den Eindruck, dass eben diese Szene das Publikum besonders erreicht hat. Ich glaube, es liegt nicht am Fremden darin, sondern daran, dass wir uns in dem autistischen Jungen wiederfinden. „Fremde sind wir uns selbst“ heißt ein in den Neunziger Jahren viel gelesenes Buch der französischen Psychoanalytikerin Julia Kristeva. Sie entwickelt darin eine Ethik des Respekts für das Unversöhnbare in uns selbst. Als ich am Sonntag der überaus gelungenen Verleihung des von der Heydt-Kulturpreises an Eugen Egner und des Förderpreises an »Glanzstoff – Akademie der inklusiven Künste« beiwohne, kommt mir all das in den Sinn. Egners Zeichnungen und Texte verzerren das, was wir Realität oder auch unsere Identität nennen, bis zur Kenntlichkeit. »Glanzstoff« arbeitet zusammen mit dem Wuppertaler Schauspiel an der Professionalisierung von Schauspielerinnen und Schauspielern mit geistiger oder körperlicher Beeinträchtigung. In bewegenden Worten bringt Schauspiel-Intendant Thomas Braus die gesellschaftliche Relevanz solcher Arbeit auf den Punkt: In einer Zeit, in der Angst vor Vielfalt in unserer Gesellschaft geschürt werde, habe man umso mehr für sie einzutreten. Seit einigen Jahren schon kommt kaum eine Theaterbühne, die etwas auf sich hält, mehr ohne Schauspieler mit Migrationshintergrund aus. Wie sonst wollte das Theater unsere Vielfalt abbilden? Gar nicht selbstverständlich – und damit leider Spiegelbild unserer gesellschaftlichen Realität – ist, dass Schauspielerinnen und Schauspieler mit Beeinträchtigungen zu Ensembles gehören. Tatsächlich ist das Schauspielstudio, das an den Wuppertaler Bühnen für eben diese Menschen entsteht, das erste und einzige bundesweit. Das „ort workshop ensemble“ spielt und improvisiert an diesem Vormittag so kongenial – sehr zur Freude des Preisträgers –, dass man erleben kann: Kunst feiert die Vielfalt – der Perspektiven, des Ausdrucks, des Lebens – und das Unversöhnbare in uns selbst. Da war ich mal wieder stolz auf unsere ungeschminkte Stadt. 2873 Weitere Informationen WZ KolumneDiese Kolumne in der Westdeutschen Zeitung