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Schreiben mit dem Selfie-Stick

Von Max Christian Graeff

Eine Literaturkolumne zum Bücherherbst? Es gibt wenig Langweiligeres. Jeden Tag erscheinen etwa 200 neue Bücher auf deutsch, und in zwei Wochen liegen sie alle in den Frankfurter Messehallen neben- und aufeinander und betteln um Aufmerksamkeit, während vor den Regalen alle nur an Selfies denken. Was ja nicht verkehrt ist, denn mit dem „Ich“ hat es ja bei jedem von uns begonnen. Und nur der kommt vom Fleck, der sein Ich auch mal von außen betrachtet und nicht jeden Text mit ihm beginnt. Außer Ernst Jandl, der darf das: „I Is Poetry!“ rief er einst und markierte damit den Urschrei und die Kernzelle der Dichtung im neuen medialen Raum.

Max Christian Graeff - Foto: C. Paravicini
Max Christian Graeff - Foto: C. Paravicini

Manche mögen nun sagen, es müsse richtigerweise „I am poetry“ heißen, aber das ist hier nicht gemeint. Dieses „Ich ist“ zeigt, genau wie bei Arthur Rimbauds berühmter Formel „Ich ist ein anderer“, den Dichter, der seinen eigenen Raum verlässt, über sich hinausgeht und zum Sehenden wird.
Sein eigenes Schreiben zu entdecken und zu bemerken, dass man sich mit Zeichen und Formulierungen wirkungsvoll verständigen kann, ist das allerschönste Entdecken der Welt. Freiheit! Richtung! Nutellabrote! Nichts scheint mehr unerreichbar, sobald wir es zu benennen wissen. Nur Frau Schmidt sah das anders. Als ich in die erste Klasse kam, konnte ich bereits lesen (auch Fraktur) und ganz schön schreiben und malte vor Freude noch einige Monster neben die Zeilen, was Strafaktionen nach sich zog.

Ich hatte es aber nicht so früh gelernt, um fleißiger zu sein als andere, sondern weil es einfach Spaß machte! Enttäuscht wurde meine Handschrift fortan nahezu unlesbar, die Noten wurden schlechter, aber die Texte lang und seltsam. Die Handschrift wurde zum Spiegel innerer Zustände, Spannungen und Höhenflüge, zu einem Indikator des Gelebten und des Seins. Frau Schmidt konnte mich nicht besiegen; ich ließ sie quasi nicht mehr mitlesen. Aber meinen Eltern schrieb ich viele irre Briefchen, vom Kinder- ins Wohnzimmer.

Dieses Üben der Verständigung und die Verhandlungen mit dem Leben sind heute auf elektronische Tasten gewandert und nur noch Zeichen auf Monitoren. Manche Eltern erkennen die Handschriften und Selbstsuchen ihrer Kinder gar nicht mehr. Ich bin kein Technikfeind und hatte mit sieben schon eine Schreibmaschine. Nur Tipp-Ex gab es nicht; ich durfte Fehler machen, diese aber anschauen und aushalten lernen. Und es waren grandiose Fehler dabei, mehr als alle Richtigkeiten!

Nur aus Fehlern entsteht Wissen, nicht aus Autokorrektur. Man könnte sogar leichtfertig behaupten: je mehr sich heutige Eltern ganz bestimmte, grundoptimierte Kinder wünschen, desto höher klettert die Analphabetisierungsquote. Denn eines dürfen die wilden Entdecker heuer oftmals nicht mehr: schreiben, wie ihnen der Schnabel gewachsen ist – womit auch das Sehen und Sich-Sehen verbunden ist, zum allgemeinen Nutzen. Wovon auch die ganze Dichtung und die Kunst und Kultur im Allgemeinen betroffen ist, denn „Eye Is Poetry!“

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