Die Fragen der Kunst sind wertvoller als ihr Wert 25. Mai 2022 Von Max Christian Graeff Die drei jungen Stimmen in meinem Meisenkasten werden nicht nur laut, wenn die Eltern zu lange einkaufen fliegen, sondern auch, wenn unter ihnen eine Horde aus der Grundschule krakeelend das Weltgeschehen bespricht wie Megameisen on dope. Oft geht es um das Wichtigste (“Kreisch, die Mädchen kommen!“), doch auch um Stürme, Krieg und andere Ereignisse mit Gesprächsbedarf. Ich erinnere mich, selbst täglich mit Fragen beladen aus dem Schulbus gestiegen zu sein, die beim Mittagessen abzuarbeiten waren: Agent Orange, Israel, Prag, Schahbesuch, RAF… Max Christian Graeff - Foto: C. Paravicini Auch das Lesen der Magazine war erlaubt und half nur bedingt, aber erweiterte das Denken. Statt virtueller Welten gab es Banden im Wald; dort bekam man was auf‘s Maul, auch das keine Erkenntnis, aber eine Übung im Verstehen. Dieser stets wachsende Apparat aller nicht zu beantwortenden Fragen war die Alltagskultur: nicht Leistung, sondern organisches Erleben. Das Älterwerden definierte sich – bis heute andauernd – durch die Art, Fragen zu stellen und fehlende Antworten auszuhalten. Heutige Nachrichten zeigen gerne Kinderaugen in Nöten aus aller Welt, zuweilen aufrichtig, doch zu oft nur als emotionale Garnitur. Ich fürchte mich vor den Fragen, die sie uns einst rückwirkend stellen werden – nicht über sich, sondern über „uns“. Über jene, die sich mehr für ihr Cocooning mit schlafoptimierenden Boxspringbetten für den Wellnessbunker interessieren, über die, denen ihre Meinungsrülpser auf energieraubenden Megaplattformen über alles gehen – und natürlich auch über uns Kulturschaffende und unsere Debatten über das Zeitgemäße. Vieles Dringliche dieser Transformationsdiskurse wird tatkräftig und Hand in Hand mit Technologie, Forschung und Wirtschaft verwirklicht: Gäbe es etwa die (immer noch von vielen beargwöhnte) Utopiastadt samt Netzwerk, Experimenten und Trassenzirkus nicht, hätte die Universität kaum die Expertenteams aus aller Welt zum Solar Decathlon in die Stadt holen können. Zugleich hocken viele Künstler im dritten Seuchenjahr in ihren Einzelateliers und arbeiten mit akuter „Projektitis“ die rettenden Kulturstipendien des Landes ab, so notwendig wie mitunter selbstverzehrend. Welche Ergebnisse zukunftsbildend wirken, werden wir sehen. Mehr als auf das Labsal schillernder Leistungen im oft digitalen Kunstverglühen hoffe ich auf neue, schwer beantwortbare und damit nachwirkende Fragen zu dräuenden Weltkatastrophen; dies ist mir jedenfalls bei den eigenen Projekten ein Anliegen: Die Hilfe nutzen, um an Überfälligem zu arbeiten, das im „Regelbetrieb“ vor Corona nicht möglich war; dies aber nicht nur fürs Archiv aller Antworten, sondern nützlich für das, was für unsere Zukunft in Frage kommt. Der »Kunsttempel« in Kassel startete zur documenta eine Aktion: Einzusenden war die Fortsetzung des Satzes „Die documenta ist …“; eine Maschine mit künstlicher Intelligenz malte dann aus diesem Satz ein Bild. Ich ergänzte den Satz kryptisch, aber für mich stimmig – und das entstandene Bild übertrifft an Schlechtheit all meine Erwartungen. Ich kaufte es dennoch als NFT (Non-Fungible Token), also als Blockchain-Zahlenfolge, die meine Datei als unikates Werk und verkaufbares Wertobjekt garantiert. Dabei hörte ich meinen Vater sagen: „Hättest du das Geld in die Wupper geschmissen, dann hättest du es wenigstens platschen gehört.“ Der Erlös kommt aber Künstlern und Künstlerinnen aus der Ukraine zugute, weshalb alles gut ist. Jedoch habe ich an solche Kunst leider keinerlei Fragen mehr. Ihre Meinung: kolumne@fnwk.de vorheriger Artikel Jetzt, gemeinsam und wo, wenn nicht hier? 2145