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Erinnerung an das Erinnern

Guter Vorsatz: Erzählen lernen von der alten Zeit, die auch keine gute war. // 8. Januar 2020

Von Max Christian Graeff

Die Schule hat begonnen; das Brummen des Neubeginns lässt das Tal erbeben. Endlich Schluss mit pieksenden Tannennadeln zwischen den Zehen; fast 30 Millionen Symbolbäume sind von den Straßenrändern zu holen. Sinnfragen und Verteidigungen zum Reigen der Weihnachts- und Silvestersünden („Da wird man wohl noch böllern dürfen!“) haben Pause und wir blicken voll Schrecken auf die Eilmeldungen unserer Tage. Wo hatten wir vor drei Wochen aufgehört, bevor die Kolumne der freien Kultur pausieren musste? Bei der werten Kollegin Uta Atzpodien ging es um Foren, Dialoge und das Aushandeln der Bedingungen für gesellschaftliche, kulturelle Prozesse, um deren oftmaliges Fehlen zwischen Verwaltung, Regierung und Bevölkerung und um den Wert der Kunst. Enorm wichtiges Thema, und doch verhallte es schnell zwischen den Glühweinbuden; erinnern Sie sich? Und nun ist die Welt wieder neu. Meine geplante Anschlussüberschrift „Impeach yourself – Enthebt Euch!“ wandert vorerst in den Müll.

Max Christian Graeff - Foto: C. Paravicini
Max Christian Graeff - Foto: C. Paravicini

Was aber nun? Die Feiertage zum Jahresende waren wie immer welche des mal gelingenden, mal explodierenden Miteinanders; man hockt zusammen und erzählt von dem, was war, von Erinnerungen, von der Familie und dem ewigen Streit über die gute oder böse alte Zeit. Analoge Fotokisten werden hervorgeholt und wie jedes Jahr der Wunsch geäußert, die Alten hätten nun endlich zu beginnen, ihr Leben und die Familienklamotten aufzuschreiben, Opas Vertellchen und Omas Gedöns, denn sonst ginge dies bald verloren, nicht nur im zunehmenden Alzheimer, sondern im Rausch des stetigen Neubeginns. Doch meist werden diese Wünsche zusammen mit dem kahlen Baum an die Straße gestellt – denn es geht ja voran; so viel Gegenwart war nie! Vermutlich war das schon immer so.

Wenn wir uns in heutigen Überlebensfragen so sehr nach vorne konzentrieren müssen, hat der Blick nach hinten einen zweifelhaften Ruf. Bleiben wir bei der Regionalgeschichte: Wenn wir der alten Zeit nur das „Gute“ abgewinnen wollen, schmeckt sie halt lediglich nach Butzenscheiben und Piepensever. Erinnern an die Familien- und Ortsgeschichte heißt aber auch, den Boden und Grund unseres heutigen Lebens zu erkennen: Zusammen mit den Großeltern sind wir noch mitten in wilhelminischer Steifheit und Pracht, in Armut und Verzweiflung mit Hoffnungen auf irre politische Versprechen, in Siegesrausch und Verlierenstaumel, in Schlamm und Trümmern und hinter Stacheldraht, in Läuterungen und Verleugnungen, in gewaltigen Lügen, die unseren Familien und allen Nachbarn bis heute in den Knochen vibrieren. Und öfter, als wir es erkennen wollen, führt die Legende davon, so vieles „verloren“ zu haben und ungerecht behandelt worden zu sein, auf direktem Wege in die heutige Hass- und Neidkultur.

Der Blick nach hinten muss also statt mit Seufzern mit einem Willen zur ungemütlichsten Erkenntnis getätigt werden, um nach vorne zu weisen, selbst wenn dies für kein bimmelndes Fest zu taugen scheint. Jenes wäre dennoch genau der richtige Anlass, um solch persönliches, familiäres „Erinnern an die Gegenwart“ zu teilen. Damit würde es zu einer dem Kommenden dienenden Kultur und sogar zum Teil dessen, was heute – oft so schwer verständlich – als „Zukunftskunst“ bezeichnet wird. Der taube Januar taugt zu mehr als zum Kopfsprung ins trübe Wasser. Wir können ihn nutzen, um das Erzählen zu lernen (keine Angst vor der „Literatur!“), zur Suche nach den Fadenenden im Knäuel des Gewesenen, an denen wir ziehen können, bis der nächste Baum ins Zimmer wächst.

 

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