Die Kunst als Widerstand ist lernbar Die Dichtung ist eine Pflichtstunde in der Grundschule fürs Leben. Von Max Christian Graeff In der Straße neben der Sackgasse, in der ich lebe und schreibe, läutet nun wieder die Pausenglocke der Grundschule und pumpt ihren strengen Takt auch in meinen Vormittag: Eine kurze Unterbrechung nur, schnell die Verspätungen sortieren, Pulverkaffee und ein bisschen toben, dann: nächste Stunde, konzentriere dich, nicht verzetteln; beim nächsten Gong ist es – schon wieder viel zu spät. Ich wühle in alten Papieren, in Fundsachen, Entdeckungen, Artikeln und Versen, die versuchen, mich mit all ihrer Kraft aus der Gegenwart zu zerren. Max Christian Graeff - Foto: C. Paravicini In einem feuchten Keller fand ich Dutzende Briefe des expressionistischen Dichterfürsten Georg Kaiser, aus seinen letzten traurigen Lebensjahren im Exil. Noch weiß niemand von ihnen, aber sie müssen in ein Archiv, in Sicherheit; in meinem Schlafzimmer zu trocknen hat der Dichterkaiser wahrlich nicht verdient. Dazwischen das „Israelitische Wochenblatt“ aus Zürich vom März 1945, mit einem aktuellen Nachruf: „Tot ist die Prinzessin von Theben!“ und dem Gedicht „Ich weiß, daß ich bald sterben muß …“ von Else Lasker-Schüler. Als originaler Abdruck kurz nach ihrem Tode, während die Maschine des Nationalsozialismus noch infernalisch brüllt, kommen die Verse abermals ungemein nah, sind so lange her und doch ganz Gegenwart: Am Mittwoch dieser Kolumne spielen Studierende des Folkwang Theaterzentrums das neue Stück „Prinz Jussuf von Theben“ von Gerold Theobalt in Tel Aviv (und übermorgen in Jerusalem), als erstes Mal, dass ein deutsches Bühnenwerk über „unsere Else“ von einem Ensemble aus der Bundesrepublik in Israel aufgeführt wird. Am 18. Oktober ist die Produktion im Tal zu sehen, im Theater am Engelsgarten. Und am 6. Oktober öffnet die gleichnamige große Ausstellung im Von der Heydt-Museum. Das Jahr, in dem der 150. Geburtstag der Dichterin gefeiert wird, neigt sich dem Ende zu. Nächste Ereignisse „werfen ihre Schatten voraus“, wie man so sagt, wenn auch das Licht gemeint sein kann: Friedrich Engels ist dran; es wird sachlicher, offenkundig politischer als poetisch, obwohl auch er Verse und Theaterszenen geschrieben hat. Zugleich sitzen die Nazis allerorten wieder in den Parlamenten und verscheuchen mit machtgeifernden Gebell, mit Hetzjagden und mitunter tödlichen Bissen ihrer anwachsenden Meute auch genau das, was uns helfen könnte, in der schier ausweglosen Menschlichkeits- und Umweltkrise des ungebremsten globalen Konsums neue, wegweisende Gedanken zu finden. Dichtung ist keine „Kunst für die Kunst“, sie ist ein Verhandeln, Abwägen, Entwerfen und Konstruieren einer für die Gattung Mensch (noch) lebbaren Welt. Wir nehmen sie allzu oft nur im Nachhinein wahr, in Festivals zu Geburts- oder Todestagen, als Träume von gestern für ein Morgen, das heute schon Geschichte ist. Die Dichtung steht, sofern sie die modischen Räume der Selbstfindung überschreitet, scheu hinter den schmückenden und manchmal gar verkäuflichen bildenden oder klingenden Künsten. Dabei ist sie – wie auch die Philosophie und das Lernen von Musik – die wirksamste Bildung jenes Herzens, das im Kopfe sitzt. Jeder Tag ist in der Poesie die Grundschule des Lebens. (Das kann man so oder so lesen.) – Nebenan hat gerade die Glocke geläutet. Die Kinder und die Meisen kreischen, dass es eine Freude ist. Kurze Pause; die Kolumne muss weg, das Nächste drängt. Ach ja: Am 21. 9. fragt das Freie Netz Werk Kultur in der Bandfabrik unter dem Titel „Kunst gegen Rechts?“ nach Wegen und Wirkungen der Kunst in unserer Gegenwart. Auch diese Stunde sollte niemand schwänze 3597 Weitere Informationen WZ KolumneDiese Kolumne in der Westdeutschen Zeitung