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Das Unerwartete hat es schwer

Der Markt erfindet die sogenannte Jugend immer neu // 23. Oktober 2024

Max Christian Graeff

Sonntagabend am Frankfurter Hauptbahnhof, die Bahnsteige sind voll mit erschöpften Menschen: Die 76. Buchmesse ist beendet. Diesmal kam ich von einem Job anderswo und wurde beim Umsteigen etwas sentimental, da die weltgrößte Messe für Gedrucktes einst ein unumstößlicher Jahrestermin war, an dem sich freiberufliche Tätigkeiten und manchmal das wirtschaftliche Überleben des nächsten Jahres entscheiden konnten. In den Jahren als Buchhändler fragten wir uns auf der Rückfahrt, ob wir richtig eingekauft oder wieder zu viele Bücher geordert hatten, die uns selbst sehr, jedoch in Elberfeld sonst niemanden interessierten. Als Auftragsautor habe ich mich von den Auslagen vieler Hundert Verlage aus aller Welt inspirieren lassen, hab selbst Ideen gepflanzt und massiven (Lern-)Stoff inhaliert, über Kulturen der Vergangenheit und Gegenwart. Und drumherum viel erlebt, zuweilen anderswo geschlafen als geplant und wesentliche Menschen beobachtet, von Günter Grass bis Mohammed Ali oder Lotti Huber. Einmal bin ich im Getümmel voll in den Bauch von Helmut Kohl gerannt. Er hat wohlig gegrunzt!

Max Christian  Graeff - Foto: C. Paravicini
Max Christian Graeff - Foto: C. Paravicini

Die Buchmesse hat sich seither völlig geändert. Der Treffpunkt für die Aktiven ist in elektronischer Zeit nicht mehr so wesentlich, internationale politische Diskurse und Statements sind seltener geworden, der Handel bestellt kaum noch live vor Ort und die ganze Branche kämpft – auch bei partiell steigenden Umsätzen – mit sinkender Aufmerksamkeit. Die Besucherzahlen sind nur dank aufwendiger Erlebnisinszenierungen stabil: Im Fokus standen dieses Jahr die „New Adults“, Jugendliche und sich jugendlich gebende Erwachsene. Die Kunden unter 20 Jahren sind sogenannte Wachstumstreiber im Buchmarkt; sie lesen im Durchschnitt 25 Minuten am Tag, etwas mehr als vor der Pandemie. Allerdings kaum den feuilletonistischen Kanon, das Unerwartete, Experimentelle oder Weltrelevante, sondern Genres, die speziell für sie erfunden wurden: „Romantasy“ oder „Dark College“ heißt das große Ding zwischen Schmonzette und Fantasy, mit viel Blümchensex, Mythos, Idylle und Happy End, ohne moralischen Zeigefinger und gern politikfrei. Vielleicht eine Art Fluchtbewegung, Selbstbestätigung mit zugleich vielen genderfluiden und queeren Varianten. Wobei auch schwere Themen wie mentale Gesundheit und soziale Gewalt enthalten sind und ihren Sinn als Lebenshilfe erfüllen.

Vor über 30 Jahren hat der Wuppertaler Peter Hammer Verlag an der Entwicklung der Sparte „Jugendbücher“ mitgewirkt, die damals noch in kaum einer Buchhandlung einen speziellen Platz fand. Die Reihe „Galileo“ war ein Vorreiter in der Branche, „streetbooks“ in einer tollen Konzeption von Wolf Erlbruch. Der Handel war nicht zufrieden, die Bücher waren zu unnormal – und zu politisch, zu wenig selbst bezogen. Kamen sie mit ihrem coolen Outfit zu früh oder mit ihrem Anspruch schon zu spät? Kaum eine heutige BookTokerin kennt sie mehr.

Die Bücherlandschaft im Tal ist schmaler geworden; zum Jahresende schließt nun auch Jutta Lückes legendärer „bücherladen“ nach Jahrzehnten. Es gibt jedoch weiterhin sehr viel für Leseratten: Bis zum 26. Oktober läuft die Lit.Ronsdorf; das Literaturhaus, die INSEL und weitere Akteure bieten immer spannende Veranstaltungen, und es wird wieder mal an einem gemeinsamen Literaturkalender gearbeitet. Am 9. November von 14 bis 21 Uhr gibt es im Kulturclub Loch den „Literave“, ganz sicher einhornfrei und konkret am Puls der Zeit. Lesen und hören Sie das, was Sie noch nicht kennen! Trauen Sie sich das Unerwartete, das Überraschende oder auch mal Verwirrende zu. Nur das bringt uns wirklich weiter.

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