Das Kind unter dem Tisch Und die verlorene Kunst des Musikhörens // 9. April 2025 Von Armin Alić Ab dem Alter von drei Jahren lag ich häufig unter dem Tisch im Wohnzimmer meiner Eltern. Dies ist eine meiner frühesten Kindheitserinnerungen. Ich lauschte der Musik, die aus dem Plattenspieler kam. Es war der Anfang meiner Reise in die Musik – zunächst als Leidenschaft, später als Lebensweg und Beruf. Machen Kinder in der heutigen Zeit noch solche Erfahrungen? Eine schwierig zu beantwortende Frage. Armin Alić - Foto: Anna Schwartz Das Format eines Albums, zumal in physischer Form, ist leider kaum noch relevant. Anstatt LPs und CDs zu kaufen, streamen wir. Die Vergütungsmodelle von Spotify und dergleichen sind nicht nur unfair, sie sind ausbeuterisch. Selbst bei Millionen Streams bleiben den Künstlern oft nur Centbeträge. Es wird mit Streaming sehr viel Geld umgesetzt, es landet nur nicht bei denen, durch deren Musik es generiert wird. Das Konsumverhalten der Musikfans hat sich auch geändert. Die Aufmerksamkeitsspanne junger Menschen ist erschreckend kurz. Die Zeit und Lust, in ein Album „einzutauchen“, ist kaum noch vorhanden. Stattdessen hört man in Form von Playlisten Singles, also einzelne Songs. Oftmals, ohne überhaupt zu wissen, von wem diese geschrieben oder dargeboten wurden. Auf die Arbeit von Musikschaffenden haben diese Entwicklungen desolate Auswirkungen. Viele können es sich schlicht nicht mehr leisten, Alben zu produzieren. Also passen sie sich der Situation an und machen nur noch Singles. Der kreative Prozess wird zur Denksportaufgabe, Kalkulation und Blick auf das Konto sind wichtiger als die freie künstlerische Entfaltung. Sehr oft steht sogar an erster Stelle, dass das Ergebnis Algorithmen-tauglich sein muss. Der Verlust der künstlerischen Integrität und der Freiheit uneingeschränkter Kreativität sind der wahre Preis, den wir alle zahlen. Mit dem Album stirbt eine Kunstform: ein musikalisches Werk, das erzählt, überrascht, sich entfaltet – wie ein Film, ein Roman. Stellen Sie sich vor, es gäbe nur noch Kurzfilme von drei Minuten. Oder Bücher, die maximal eine Din A4-Seite lang sind. Was für eine traurige Aussicht… Was können wir also tun, damit es nicht so weit kommt? In Bezug auf die Streaming-Dienste kann es eigentlich nur eine politische Lösung geben. Plattformen wie Spotify müssten gesetzlich dazu verpflichtet werden, an die Urheberinnen und Urheber der Werke, mit denen sie Profite in Milliardenhöhe erzielen, angemessene Vergütungen zu zahlen. Musik ist kein „Nebenbei“-Geräusch. Sie ist Erinnerung, Emotion und Kultur. Sie verdient Respekt – und eine Zukunft. Als Musikhörer haben Sie Macht: Kinder und Jugendliche können sich immer noch sehr für gute Musik begeistern, wenn sie die Gelegenheit bekommen, sie hautnah zu erleben. Spielen Sie Ihren Kindern Musik vor, während diese unter Ihrem Wohnzimmertisch liegen. Gehen Sie mit ihnen in Konzerte und lassen Sie sie Musik erleben! Auch wenn sie vielleicht nicht Berufsmusiker werden, können diese Erlebnisse Balsam für ihre Seelen sein und ihre Denkprozesse verändern und positiv anregen. Sie werden es Ihnen später danken. Unterstützen Sie die Musikschaffenden, deren Musik Sie gerne hören. Besuchen Sie ihre Konzerte, kaufen Sie ihre Schallplatten und CDs. So bekommen diese vielleicht doch eine Chance, das nächste Album aufzunehmen und zu veröffentlichen. Zu guter Letzt möchte ich Ihnen das neue Royal Street Orchestra Album „metamorphose“ ans Herz legen. Das gibt es auch in Form einer hochwertigen Doppel-LP! Feedback gerne an ➜ kolumne@fnwk.de Zur Person >> Armin Alić, 1980 in Sarajevo geboren, kam 1992 als Kriegsflüchtling nach Wuppertal. Er ist Bassist und Gründungsmitglied der Wuppertaler Band Royal Street Orchestra, tourt zusätzlich regelmäßig und international mit verschiedenen anderen Bands. Armin ist auch passionierter Musikpädagoge sowie Mitbegründer und Vorstandsmitglied des Wuppertaler Vereins „Planet K – Kultur für alle e. V.“ vorheriger Artikel Kultur für den Stoffwechsel unserer Gesellschaft 52